Richard schlief wie ein Toter, als er von einer Hand, die ihn anstieß, aufwachte. Er setzte sich auf, rieb sich die Augen und versuchte in panischem Schrecken seine Gedanken wieder zu sammeln.
»Was? Was ist?« Seine Stimme klang in seinen Ohren wie ein Reibeisen.
»Lord Rahl?« war eine tränenreiche Stimme zu vernehmen. »Seid Ihr wach?«
Richard blinzelte zu der Gestalt hinauf, die eine Lampe in der Hand hielt. Anfangs erkannte er nicht, wer es war.
»Berdine?« Nie zuvor hatte er sie in etwas anderem als ihrer Lederuniform gesehen. Jetzt stand sie in einem weißen Nachthemd mitten in seinem Zimmer. Sie trug ihr Haar offen. Er hatte Berdine noch nie ohne ihren Zopf erlebt. Der Anblick verwirrte ihn.
Richard schwang seine Beine über die Bettkante und streifte hastig seine Hosen über. »Was ist, Berdine? Was ist denn los?«
Sie verschmierte die Tränen in ihrem Gesicht. »Bitte kommt, Lord Rahl.« Sie schluchzte. »Raina ist krank.«
53
Verna schloß die Tür, so leise sie konnte, nachdem Warren die wild um sich schlagende Frau wieder in die Dunkelheit gezogen hatte. Seine Hand schloß sich so fest über ihren Mund wie sein Netz um ihre Gabe. Verna hätte die Magie der Frau nicht so gut unter Kontrolle halten können wie Warren. Die Gabe eines Zauberers war stärker als die einer Magierin – selbst stärker als Vernas.
Sie entzündete eine kleine Flamme in ihrer Hand. Die Frau riß die Augen auf, die sich kurz darauf mit Tränen füllten.
»Richtig, Janet, ich bin es, Verna. Wenn du versprichst, nicht loszuschreien und uns nicht zu verraten, werde ich Warren sagen, er soll dich loslassen.«
Janet nickte ernst. Mit der anderen Hand hielt Verna ihren Dacra umklammert und, für den Fall, daß sie sich irrte, vor ihren Blicken verborgen. Sie nickte Warren zu und gab ihm ein Zeichen, die junge Frau loszulassen.
Nachdem sie befreit war, schlang Janet ihr die Arme um den Hals. Warren hob die Hand und ließ ein kleines Flämmchen über ihr tanzen, damit sie etwas erkennen konnten. Wie die übrige Festung bestand der winzige Raum aus gewaltigen Quadern dunklen Steins. Aus manchen Fugen sickerte milchig-trübes Wasser, das auf dem Weg nach unten verkrustete und fleckige Spuren hinterließ.
»Oh, Verna«, flüsterte Janet, »du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich mich freue, dich zu sehen.«
Verna nahm die zitternde Frau in die Arme, die sich leise weinend an ihr Gewand klammerte. Noch immer hielt sie den Dacra hinter Janets Rücken in der Hand.
Sie schob Janet sachte von sich und blickte ihr lächelnd in das tränenüberströmte Gesicht. Sie wischte ein paar Tränen fort und strich Janets dunkle Locken glatt.
Die andere küßte ihren Ringfinger – eine Geste aus alter Zeit, mit der man den Schöpfer um Schutz ersuchte. Sie zwar leidlich sicher gewesen, daß Janet dem Licht treu ergeben war, trotzdem war sie erleichtert, als sie sich solcherart bestätigt sah.
Eine Schwester der Finsternis hatte sich dem Hüter der Unterwelt verschworen und würde niemals ihren Ringfinger küssen. Die Geste stand für die symbolische Vermählung mit dem Schöpfer.
Es war die einzige Geste, die eine Schwester der Finsternis niemals machen würde. Eine Schwester der Finsternis konnte ihre Ergebenheit ihrem wahren Herrn, dem Hüter, gegenüber nicht verbergen, indem sie ihren Ringfinger küßte, denn durch diesen Kuß beschwor sie den Zorn des Meisters der Finsternis herauf.
Als Janet sich kurz zu Warren umdrehte, ließ Verna den Dacra in den Ärmel zurückgleiten. Sie sahen sich lächelnd an.
Beide, Verna und Warren, erfaßten Janets bizarre Kleidung mit einem einzigen Blick. Sie war barfuß. Das sackartige Kleidungsstück, das an der Hüfte von einer weißen Kordel zusammengehalten wurde, bedeckte sie von den Knöcheln bis zum Hals und zu den Handgelenken, war aber so dünn, daß sie ebensogut hätte nackt vor ihnen stehen können.
Verna zupfte mit Daumen und Zeigefinger an dem durchscheinenden Stoff. »Wozu in der Schöpfung Namen trägst du dieses Kleidungsstück?«
Janet blickte an sich hinab. »Jagang zwingt alle seine Sklaven, sich so zu kleiden. Nach einer Weile fällt es einem gar nicht mehr auf.«
»Das bemerke ich.« Verna sah, daß Warren große Mühe hatte, seine Augen von dem Anblick loszureißen.
»Was tust du hier, Verna?« fragte Janet mit spröder Stimme.
Verna kniff ihr schmunzelnd in die Wange. »Ich bin gekommen, um dich hier rauszuholen, Dummes, um dich zu retten. Wir sind doch Freundinnen – hast du etwa gedacht, ich würde dich hierlassen?«
Janet machte große Augen. »Die Prälatin hat erlaubt, daß du mir folgst?«
Verna zeigte ihr den Ring mit dem Sonnenaufgangssymbol. »Ich bin die Prälatin.«
Janet fiel die Kinnlade herunter. Sie ließ sich auf den Boden fallen und begann, den Saum von Vernas Kleid zu küssen.
Verna faßte sie bei den Schultern und drängte sie aufzustehen. »Laß das. Dafür ist jetzt keine Zeit.«
»Aber – aber wie … wie ist das geschehen? Wie ist das möglich? Was ist passiert?«
»Die Netze werden nicht lange halten«, warnte Warren leise flüsternd. »Wir sind ohnehin schon länger hier, als gut ist.«
»Hör mir zu, Janet. Sprechen können wir später, wenn wir dich hier rausgeholt haben. Die Dinge, die wir tun mußten, um hier einzudringen, lassen uns nur wenig Zeit, wieder zu verschwinden. Der Aufenthalt an diesem Ort ist für uns gefährlich.«
»Das glaube ich gern«, sagte Janet. »Prälatin, Ihr müßt –«
»Verna. Wir sind Freundinnen. Ich heiße noch immer Verna.«
»Verna, wie in der Schöpfung Namen bist du in Jagangs Festung gelangt? Du mußt hier sofort raus. Wenn man dich findet –«
Stirnrunzelnd berührte Verna den Ring in Janets Unterlippe. »Was ist das?«
Janet erbleichte. »Er brandmarkt mich als eine von Jagangs Sklavinnen.« Sie begann zu frösteln. »Bring dich in Sicherheit, Verna. Geh fort. Du mußt fort von hier!« flüsterte sie eindringlich.
»Da gebe ich ihr recht«, zischte Warren zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. »Gehen wir!«
Verna schob sich ihr Gewand über die Schulter. »Ich weiß. Jetzt, wo wir dich gefunden haben, können wir aufbrechen.«
»Gütiger Schöpfer, du glaubst gar nicht, wie gerne ich mit dir kommen würde, aber wenn ich das täte – du kannst dir nicht vorstellen, was Jagang mir dann antun würde. Oh, Gütiger Schöpfer, das kannst du dir nicht vorstellen.«
Schon beim Gedanken daran füllten sich ihre Augen mit Tränen. Verna nahm sie kurz in die Arme.
»Hör zu, Janet. Ich bin deine Freundin. Wie du weißt, würde ich dich niemals anlügen.« Sie wartete, bis die andere nickte. »Es gibt eine Möglichkeit, wie du den Traumwandler aus deinem Kopf verbannen kannst.«
Janet zerdrückte Vernas Kleid an den Schultern. »Bitte, quäle mich nicht mit einer falschen Hoffnung. Du hast keine Ahnung, wie gern ich dir glauben würde, aber ich weiß –«
»Es stimmt. Hör mir einfach zu, Janet. Ich bin jetzt die Prälatin. Meinst du nicht, Jagang würde sich mich holen, wenn er das vermöchte? Warum glaubst du, hat er sich die anderen nicht geschnappt? Er kann es nicht, darin liegt der Grund.«
Wieder zitterte Janet, und Tränen rannen ihr über die Wangen.
Warren legte ihr die Hand auf die Schulter. »Was Verna sagt, entspricht der Wahrheit, Schwester Janet. Jagang kann nicht in unsere Köpfe eindringen. Kommt mit uns, und Ihr werdet Euch in Sicherheit befinden. Nur eilt Euch.«
»Wie?« fragte Janet im Flüsterton.
Verna beugte sich zu ihr vor. »Erinnerst du dich an Richard?«
»Natürlich. Der war schließlich Ärger und Wunder in ein und derselben Person.«
Verna lächelte, denn das stimmte ohne Zweifel. »Er besitzt die Gabe, und aus dem Grunde bin ich ihm auch so lange gefolgt, aber das ist noch nicht alles. Er wurde mit ihren beiden Seiten geboren. Darüber hinaus ist er ein Rahl.
Vor dreitausend Jahren, im großen Krieg, hat Richards Vorfahr eine Magie erschaffen, um Traumwandler abzublocken. Diese geht auf alle Nachfahren mit der Gabe über.«