»Genau wie ich«, gab Nathan zurück. »Deswegen kann ich nicht zulassen, daß man mir das Buch bringt. Das Treffen heute hier mit Euch ist das letzte Risiko, das ich einzugehen beabsichtige. Trotzdem will ich dieses Buch. Bis ich es habe, fehlt mir jede Möglichkeit festzustellen, ob es für mich sicher ist, nach D'Hara zu gehen.«
»Seine Exzellenz hat dafür Verständnis und nichts gegen Eure Bitte einzuwenden. Sein Ziel wird bald verwirklicht sein, daher hat er keine weitere Verwendung für das Buch. Außerdem wäre eine Welt ohne Menschen, die für ihn arbeiten, von geringem Wert.
Mit dem Buch kann nur Schwester Amelia etwas anfangen, da sie es war, die in den Tempel der Winde eingetreten ist und es wiedergefunden hat. Er hat angeboten, Euch entweder das Buch oder Schwester Amelia zu überlassen. Wenn Ihr wollt, schickt er sie zu Euch.«
»Damit Jagang erfährt, wo ich mich aufhalte? Wohl kaum, Schwester. Ich nehme das Buch.«
»Auch dem wird seine Exzellenz entsprechen. Wir können es schicken oder jemanden bitten, sich mit Euch zu treffen, um es bei Euch abzuliefern. Er möchte nur nicht, daß Ihr persönlich kommt, um es abzuholen – aus Sicherheitserwägungen, wie ich bereits erläutert habe.«
Nathan rieb sich das Kinn und dachte nach. »Und wenn ich jemanden mit Euch zurückschicke? Einen Stellvertreter, der meine Interessen vertritt? Jemanden, der mir treu ergeben ist, damit ich nicht befürchten muß, daß Jagang in seinen Verstand eintaucht und herausfindet, wo ich bin? Jemanden, der die Gabe nicht besitzt? Er hätte keinen Grund, diese Person zu fürchten.«
»Der die Gabe nicht besitzt?« Schwester Jodelle dachte einen Augenblick nach. »Und wir könnten diese Person auf die Probe stellen, ohne daß sie von Euren Schilden umgeben ist, und uns davon überzeugen, daß sie die Gabe auch ganz sicher nicht besitzt?«
»Selbstverständlich. Die Beziehung zwischen mir und Jagang soll für uns beide einträglich sein. Ich würde sie nicht aufs Spiel setzen, indem ich versuche, ihn hinters Licht zu führen. Ich möchte Vertrauen aufbauen, nicht zerstören.« Nathan hielt räuspernd inne. »Aber Ihr versteht doch sicher … diese Person bedeutet mir sehr viel. Sollte ihr etwas zustoßen, würde ich das als äußersten Affront betrachten.«
Die beiden Schwestern lächelten.
»Die Frau. Natürlich«, meinte Schwester Willamina.
»Nun, Nathan« – Schwester Jodelle wippte schmunzelnd auf den Fersen – »Ihr habt Eure Freiheit in der Tat genossen.«
»Ich meine es ernst«, sagte Nathan in gleichmütigem Ton. »Stößt ihr nur das Geringste zu, gilt die gesamte Übereinkunft als nichtig. Ich schicke sie als Beweis für mein Vertrauen in Jagang und in unsere Abmachung. So mache ich den ersten Schritt in Richtung Vertrauen, damit Kaiser Jagang sich von meiner Aufrichtigkeit überzeugen kann.«
»Wir haben verstanden, Nathan«, sagte Schwester Jodelle, jetzt ernster. »Ihr wird nichts zustoßen.«
»Wenn sie mit dem Buch aufbricht, soll sie bis hinter Jagangs Linien begleitet werden, wo sie in Sicherheit ist, und anschließend muß man sie unbehelligt ziehen lassen. Sollte sie verfolgt werden, werde ich davon Kenntnis erlangen und dies als äußerst ungünstiges Zeichen werten – nämlich als Zeichen der Feindseligkeit mir gegenüber, als einen Anschlag auf mein Leben.«
Schwester Jodelle nickte. »Verstanden und durchaus angemessen. Sie begleitet uns, bekommt das Buch und kehrt wohlbehalten und ohne verfolgt zu werden zu Euch zurück, und alle sind glücklich und zufrieden.«
»Gut«, sagte Nathan entschieden, wie um den Handel zu besiegeln. »Nach dieser Nacht wird Jagang von Richard Rahl befreit sein. Sobald ich das Buch sicher in meinen Händen halte, werde ich, als meinen Teil der Abmachung, die Armee im Süden Jagangs Expeditionsstreitkräften ausliefern.«
Schwester Jodelle verbeugte sich. »Damit ist die Abmachung besiegelt, Lord Rahl. Seine Exzellenz heißt Euch als zweiten Mann im Reich willkommen.«
Nathan wandte sich zur Tür, hinter der Clarissa kniete. Sie sprang auf und eilte ans gegenüberliegende Fenster. Dort zog sie die Vorhänge mit einer Hand zurück, und als sie hörte, wie die Tür aufging, tat sie, als schaue sie hinaus.
»Clarissa«, rief Nathan.
Sie drehte sich um und sah ihn in der Tür stehen, die Klinke in der Hand. Dahinter konnte sie die beiden Schwestern erkennen, die das Geschehen verfolgten.
»Ja, Nathan? Hast du einen Wunsch?«
»Ja, Clarissa. Ich möchte, daß du eine kleine Reise für mich unternimmst – eine geschäftliche Angelegenheit. Du mußt meine beiden Freundinnen nebenan begleiten.«
Clarissa lenkte ihre weiten Röcke um den Schreibtisch herum und folgte ihm ins andere Zimmer.
Nathan stellte sie den beiden Schwestern vor. Den zwei Frauen stand ein durchtriebenes, selbstgefälliges Grinsen im Gesicht. Sie blickten kurz in ihren Ausschnitt, dann sahen sie sich an. Clarissa hatte das Gefühl, als Hure abgestempelt zu werden, wieder einmal.
»Clarissa, du wirst unverzüglich mit diesen beiden Damen aufbrechen. Am Ziel werden sie dir ein Buch aushändigen. Damit wirst du anschließend zurückkommen. Du erinnerst dich noch, wie ich dir gesagt habe, wohin wir morgen aufbrechen wollen?«
»Ja, Nathan.«
»Dort wirst du mich treffen, sobald du das Buch hast. Niemand, absolut niemand, darf wissen, wo du mich treffen wirst. Hast du das verstanden?«
»Ja, Nathan.«
»Ich werde gehen und mich um ein Pferd für sie kümmern«, sagte Schwester Willamina.
»Ein Pferd?« stieß Clarissa hervor. »Ich habe mein Lebtag noch auf keinem Pferd gesessen. Ich kann nicht reiten.«
Nathan bat angesichts der plötzlichen Schwierigkeit in ihrem Plan mit einer Handbewegung um Geduld. »Ich habe eine Kutsche. Die werde ich herbringen lassen, und Clarissa kann sie nehmen. Nun, sind jetzt alle zufrieden?«
Schwester Jodelle zuckte die Achseln. »Pferd, Kutsche, uns ist das gleich, vorausgesetzt, wir können sie vorher auf die Gabe prüfen.«
»Prüft sie, soviel Ihr wollt. Währenddessen werde ich die Kutsche rufen lassen, anschließend kann Clarissa ein paar Sachen zusammenpacken.«
»Einverstanden.«
»Gut. Das wäre dann abgemacht.«
Nathan wandte sich Clarissa zu, den beiden Schwestern den Rücken zukehrend. »Es wird nicht lange dauern, mein Liebes, dann sind wir wieder zusammen.« Er zog das Medaillon zurecht, das an der feinen Goldkette hing, richtete es für sie und sah ihr in die Augen. »Ich werde auf dich warten. Ich habe diesen Freunden von mir erklärt, daß ich mehr als unglücklich sein werde, sollte dir etwas zustoßen.«
Clarissa blickte in seine wunderbaren Augen. »Danke, Nathan. Ich werde das Buch herbringen, wie du es verlangst.«
Nathan gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Ich danke dir, mein Liebling. Das ist lieb von dir. Dann also gute Reise.«
57
Obwohl sich dunkle, brütende Wolken zusammenbrauten, lag noch immer eine unheimliche Stille über dem Gipfel von Berg Kymermosst. Die Andolier blickten beunruhigt in den Himmel. Als Kahlan Richard beim Absteigen zusah, hing sein goldenes Cape schlaff in der unnatürlich stillen Luft. Drefan bot ihr seine Hand an, um ihr herunterzuhelfen. Kahlan tat, als bemerke sie sie nicht.
Im schwindenden Licht waren die Ruinen nur gespenstisch anmutende Umrisse, das Gerippe eines längst ausgestorbenen Ungeheuers, das nur darauf wartete, wieder zum Leben zu erwachen und sie zu verschlingen. Dies war die Nacht des Vollmondes, doch würden bleigraue Wolken ihn völlig verdunkeln. Wenig später, sobald das letzte Tageslicht verschwunden wäre, würde auf diesem gottverlassenen Gipfel totenschwarze Nacht herrschen.
Nadine stand neben Richard, als dieser zum Rand des Abgrundes hinüberstarrte. Drefan hielt sich ganz in der Nähe, er wollte auf die Frau, die in Kürze seine Gattin werden würde, nicht allzu voreilig wirken, wollte sie aber auch nicht ignorieren. Wie Nadine schien auch er dies nicht als das Ende seines Glücks zu betrachten.