Kahlan streifte ihr weißes Konfessorenkleid über. Draußen kamen die Blitze immer näher. Bei einem der Einschläge ganz in der Nähe konnte sie erkennen, wie sich am Rand des Abgrunds ein gewaltiges Gebäude erhob: der Tempel der Winde. Mit dem Erlöschen des Lichtblitzes verschwand das Bauwerk wieder, und sie konnte die fernen Berge dahinter erkennen, die von weiter entfernten Blitzen erhellt wurden.
»Richard«, meinte sie weinend, während sie einen Stiefel überstreifte, »bitte sprich mit mir. Sag etwas. Sag mir, daß es dafür keine Erklärung geben kann. Schrei mich an. Nenn mich eine Hure. Sag mir, daß du mich haßt. Tu etwas! Aber mißachte mich nicht einfach!«
Er drehte sich um und hob sein schwarzes, ärmelloses Unterhemd vom Boden auf. Als er es sich über den Kopf zog, nahm sie sein schwarzes Hemd und umklammerte es vor der Brust, in der Hoffnung, damit zu verhindern, daß er sich anzog.
»Richard, bitte! Ich liebe dich!«
Er sah ihr in die Augen. Sie glaubte, er würde etwas sagen, statt dessen drehte er sich um und legte seinen Gürtel mit den Ledertaschen an. Er ließ seine Armbänder an den Handgelenken zuschnappen. Er hob Drefans Schwert auf und schnallte es um.
»Bitte sprich mit mir, Richard. Sag etwas. Das ist das Werk der Seelen. Weißt du nicht mehr, wie ich dir erzählt habe, was die Ahnenseele von Chandalens Großvater zu mir gesagt hat: Die Winde haben entschieden, daß du der Preis für den Pfad sein sollst. Sie sind es, die uns das angetan haben!«
Erneut durchbohrte er sie mit seinem Blick. Die Rage in seinen Augen erlosch. Er sah, daß sie sein Hemd nicht hergeben würde, also warf er sich das goldene Cape um die Schultern.
Als er sich zur Tür umdrehte, packte ihn Kahlan mit beiden Händen am Arm und zog ihn zu sich herum.
»Ich liebe dich, Richard. Bitte, so glaube mir doch. Ich werde dir das hier später erklären, aber jetzt mußt du mir erst einmal glauben. Ich liebe dich. Niemanden sonst. Mein Herz gehört alleine dir. Gütige Seelen, so glaub mir doch endlich.«
Richard packte ihr Kinn mit der Hand und wischte ihr mit dem Daumen über die Lippen. Er hielt den Daumen hoch, damit sie ihn im Höllenspektakel der Blitze sehen konnte.
»… denn die in Weiß, seine wahre Geliebte, wird ihn in ihrem Blut verraten.«
Seine Worte zerrissen ihr das Herz.
Als er zur Tür hinausstürzte, erstickte Kahlan ihren Aufschrei mit seinem Hemd. Sie hatte getan, was sie sich geschworen hatte, niemals zu tun – sie hatte ihn verraten. Der Verrat hätte schlimmer nicht sein können. Und er hatte ihm das Herz gebrochen.
Hysterisch schluchzend rannte Kahlan ihm hinterher, nach draußen in die tobende Nacht. Sie mußte etwas tun, um sein Herz zurückzugewinnen. Sie durfte nicht zulassen, daß er den Schmerz hinnahm, den sie ihm zugefügt hatte. Sie liebte ihn mehr als das Leben, und sie hatte ihm das Schlimmstmögliche angetan.
Draußen pfiff der Wind heulend über den Berg. Im aufblitzenden Licht konnte sie Richards schwarze Umrisse und seine nackten Arme erkennen, während er auf die Straße zuhielt.
Er erreichte den Rand des Abgrunds am Ende der Straße, da warf Kahlan sich auf ihn und riß ihn zurück, so daß er gezwungen war stehenzubleiben.
Der Himmel bot ein wüstes Bild heftigster Entladungen. Der Donner fuhr ihr in die Knochen. Blitze zuckten quer über die Wolken, gefolgt von ohrenbetäubendem Krachen. Wann immer die kräftigsten dieser Blitze einschlugen, war der Tempel der Winde jenseits des Abgrunds zu erkennen, doch nur für die Dauer dieser grimmigen Entladungen. Danach war dort wieder nichts als Leere.
»Was wirst du tun, Richard?«
»Ich werde die Pest aufhalten.«
»Wann wirst du zurück sein? Ich werde hier warten. Wann wirst du zurückkommen?«
Er blickte ihr eine ganze Weile unverwandt in die Augen, während das Unwetter sie umtoste.
»Hier ist kein Platz mehr für mich.«
Kahlan klammerte sich an ihn. »Du mußt zurückkommen, Richard. Ich werde hier sein und auf dich warten. Ich liebe dich. Du mußt zu mir zurückkommen, Richard!«
»Du hast einen Ehemann. Du hast ihm dein Jawort gegeben … und auch sonst alles.«
»Laß mich nicht alleine, Richard«, wimmerte Kahlan. »Wenn du nicht zurückkommst, werde ich dir das nie vergessen.«
Richard drehte sich zum Rand des Abgrunds um.
»Du hast eine Frau, Richard! Du mußt zurückkommen!«
Ein Donnerschlag ließ den Berg erzittern.
Er sah über seine Schulter nach hinten. »Nadine ist tot. Ich bin durch mein Gelübde nicht mehr an sie gebunden. Du dagegen hast einen Gemahl. Hier ist kein Platz mehr für mich.«
Brutale Bänder aus Licht schlugen jenseits des Abgrunds in die Straße ein und ließen den Tempel der Winde in seiner vollen Größe sichtbar werden.
Das goldene Cape hinter sich gebläht, sprang Richard in den Blitz hinein.
»Richard! Ich bin hier. Ich bin für dich da! Wir werden einen Weg finden! Bitte komm zu mir zurück«
Als das wütende Blitzen abrupt endete, war der Tempel verschwunden. Wieder entlud sich die Spannung, und die hoch aufragenden Türme tauchten erneut für eine Sekunde auf, schwächer diesmal, dann waren sie abermals verschwunden.
Kahlan sank zu Boden, Richards schwarzes Hemd an ihren Leib gepreßt. Sie hatte ihn zerstört.
Aus den Augenwinkeln bemerkte Kahlan etwas Rotes. Es war Cara, die auf den Abgrund zurannte. Sie sprang genau im selben Augenblick ab, als wieder ein Blitz zuckte und den Tempel der Winde in der Welt des Lebendigen beleuchtete. Sie landete auf der durch die Luft führenden Straße, und als der Blitz erlosch, waren der Tempel der Winde, Richard, Cara nicht mehr zu sehen.
Am Boden zerstört, starrte Kahlan stumm in das tosende Unwetter und erblickte den hoch aufragenden Tempel der Winde von Zeit zu Zeit in einer anderen Welt. Kein einziges Mal wirkte er massiv genug, sonst wäre sie hinübergesprungen. Sie hätte es tun sollen. Sie begriff nicht, warum sie es nicht getan hatte. Warum war sie einfach stehengeblieben?
Weil Richard sie verschmähte. Er hatte gesagt, er werde sie ewig lieben. Er hatte gesagt, sie würden in der nächsten Welt Zusammensein. Er hatte ihr Versprechungen gemacht. Er hatte ihr seine ewige Liebe geschworen.
Genau wie sie – und jetzt hatte sie ihn verraten.
Von irgendwo draußen im Unwetter vernahm Kahlan fernes Gelächter. Das bösartige, selbstzufriedene Lachen ließ es ihr kalt über den Rücken laufen.
Drefan schlenderte heran und blieb bei ihr stehen. Er war allein.
»Wo ist Nadine?« fragte Kahlan.
Drefan räusperte sich. »Als die Blitze einsetzten und sie sah, daß ich es war und nicht Richard, hat sie angefangen zu schreien. Sie ist durchgedreht und hat sich über den Rand in den Abgrund gestürzt.«
Kahlan starrte ihn an. Richard wußte Bescheid. Er hatte ihr gesagt, Nadine sei tot. Richard war ein Zauberer. Das hatte sie auch in seinen Augen gesehen, ganz zum Schluß, kurz bevor er hinübergesprungen war. Sie hatte die Magie in seinen Augen gesehen.
»Wo ist Richard?«
Kahlan blickte hinaus in die Leere, in die schwarze Wand der Nacht. »Verschwunden.«
Auf der Straße zum Tempel der Winde, in dieser unheimlichen Stille, zog Richard sein Schwert. Die Fremdheit der Waffe überraschte ihn für einen Augenblick, dann fiel ihm ein, wessen Schwert es war.
Er war nicht mehr der Sucher der Wahrheit. Er hatte alle Wahrheiten erfahren, die er ertragen konnte.
Hier gab es weder Nacht noch Tag, und doch war es hell. Es war kein Sonnenlicht. Eher ähnelte es dem Licht an einem bedeckten Tag, an dem nichts darauf hindeutete, wo genau die Sonne stand. Nur gab es hier nirgends eine Sonne, das wußte er. Das hier war nicht die Welt des Lebendigen.
Es war ein Teil der Unterwelt – ein abgeschiedener, entlegener, finsterer Winkel in der Welt der Toten. Es war, als hätten die Zauberer ein weitab liegendes Loch gefunden, um den Tempel der Winde darin zu verbergen. Ähnlich versteckt hatte er schon in der Welt des Lebendigen gestanden.