Die dunklen Mauern des gewaltigen Tempels der Winde ragten vor ihm auf, seine Doppeltürme erhoben sich hinauf bis in die Nebelfetzen. Die gesamte Flanke des Berges Kymermosst befand sich hier – der komplette Teil, der in der Welt des Lebendigen fehlte.
Richard wußte, wohin er ging. Er wußte mehr als je zuvor. Das Wissen flutete seinen Verstand. Er war ein Kriegszauberer. Der Tempel der Winde hatte ein Schleusentor in seinem Geist geöffnet. Es führte ihm alles zu, was er wissen mußte, und mehr als das.
Er kam sich vor, als sei er zum allerersten Mal zu Empfindungen fähig.
Die Entschädigung für den geforderten Preis.
»Lord Rahl!«
Atemlos kam Cara angerannt. Den Strafer in der Hand, nahm sie Verteidigungsstellung ein. Doch der Strafer war hier nutzlos. Und auch in der Welt des Lebendigen war er jetzt nutzlos.
Richard drehte sich in den Wind und ging einfach wieder los. Es war nicht weit. Überhaupt nicht weit. Er kannte den Weg.
»Geht nach Hause, Cara. Ihr habt hier nichts verloren.«
»Was ist passiert, Lord Rahl? Ich –«
»Geht nach Hause.«
Sie bedachte in mit einem finsteren Blick, als sie sich an ihm vorbeischob, um sämtliche Gefahren aus seinem Weg zu räumen. Sie hatte ja keine Ahnung, welche Gefahren hier lauerten.
»Ich bin eine Mord-Sith. Ich bin hier, um Euch zu beschützen, Lord Rahl.«
»Ich bin nicht mehr Lord Rahl«, meinte Richard leise.
Sie blickte an den gewaltigen Steinpfeilern am Eingang weiter vorn hinauf. Neben ihnen, auf Mauern aus pechschwarzem Stein, die über ein Band aus kupferfarbenen Kapitellen miteinander verbunden waren, standen, erstarrt in rabenschwarzem Granit, die Skrin, die Wächter der Grenze zwischen den Welten. Erstarrt nur in Caras Augen, nicht in seinen.
Cara hob eine Hand und bedeutete ihm zurückzubleiben, während sie einen Blick auf den fernen Eingang warf und diesen auf Gefahren überprüfte. Zu ihren Füßen lagen Knochen.
»Was ist das für ein Ort, Lord Rahl?«
»Ihr könnt hier nicht hinein, Cara.«
»Warum nicht?«
Richard drehte sich um und blickte den Weg zurück, den sie gekommen waren – auf alles, was er hinter sich ließ. Da war nichts.
»Weil dies der Saal der Verratenen ist.«
Richard sah zu den Skrinzwillingen hinauf, den Wächtern, zu deren Füßen die Knochen zweier Zauberer lagen.
Richard erinnerte sich gut an die Nachricht, die die Sliph von Zauberer Ricker weitergegeben hatte: Abwehren links hinein. Jetzt wußte Richard, was damit gemeint war.
Er hob den linken Arm, die Faust nach außen gedreht, in Richtung Skrin, der auf der steinernen Mauer rechts von ihm hockte. ›Links abwehren‹, das verriet ihm, welchen Arm er benutzen und welchen Skrin er abwehren mußte. Hätte er den falschen benutzt, wäre ihm der Eintritt in diesen Ort in der Welt der Toten verwehrt worden. Eine von Rickers Fallen für die Feinde.
Sein Armband wurde warm. Das Lederpolster schützte seine Haut vor der Kraft, die er in diesem Band konzentrierte. Ein grünlicher Lichtschimmer umgab seine Faust. Der Skrin zur Rechten, wohin er sein Geburtsrecht auf die Herrschaft richtete, erglühte im Einklang mit seiner zur Zeit reglos erstarrten Faust, damit Richard eintreten konnte.
Richard blickte hinauf zu dem Wächter aus rabenschwarzem Granit zu seiner Linken. Richard rief seinen Namen, einen gutturalen Laut, auf den dieser reagierte. Schwarzes Gestein riß und bröckelte, als der Skrin sich zu seinem Herrn umdrehte und auf Anweisungen wartete.
Richard wiederholte seinen Namen. Er deutete mit der Hand auf Cara.
»Sie gehört nicht hierher. Bringe sie zurück in die Welt des Lebendigen. Tu ihr nichts. Danach kehre auf deinen Posten zurück.«
Der Skrin sprang von der Steinmauer herunter und umklammerte Cara.
»Lord Rahl! Wann werdet Ihr wieder nach Hause kommen?«
Richard sah in ihre blauen Augen. »Ich bin hier zu Hause.«
Ein Licht flackerte auf, und ein lautloser Donner erschütterte die stille Welt, als der Skrin mit Cara auf seinem Weg zurück in die Welt des Lebendigen verschwand. Richard ließ den Blick über die massiven Goldrunen wandern, die zu beiden Seiten des Saaleingangs an der Mauer hinaufliefen, und las die Nachrichten und Warnungen, die dort von Zauberern vergangener Zeiten angebracht worden waren.
Richards Cape blähte sich in einer Welt ohne Wind in seinem Rücken, ein Windmesser an einem Ort der Kraftströmungen und Energiewirbel, während er forschen Schritts weiter auf den Saal der Verratenen zuhielt.
Kahlan hob einen Arm schützend vors Gesicht, als unmittelbar vor ihr krachend ein Blitz einschlug. Die Straße in den Tempel der Winde wurde für einen Augenblick taghell. In der Ferne konnte Kahlan Richards Rücken erkennen, als dieser beherzt in einen Durchgang trat.
Cara stürzte am Rand des Abgrunds auf die Straße, direkt zu Kahlans Füßen.
Mit dem Krachen des Donners waren Tempel und Richard verschwunden.
Cara stand auf. Außer sich vor Wut packte sie Kahlan bei den Schultern.
»Was habt Ihr getan!«
Kahlan war zu verletzt zum Sprechen. Sie hielt den Blick gesenkt.
»Was habt Ihr getan, Mutter Konfessor! Ich hatte doch alles für Euch gerichtet! Was habt Ihr nur mit ihm angestellt?«
Kahlan hob den Kopf. »Ihr habt was?«
»Ich habe einen Eid geleistet. Wir sind Schwestern des Strafers. Ich habe Euch einen Eid geschworen, daß ich, sollte je etwas passieren, dafür sorgen würde, daß Ihr es seid und nicht Nadine, die bei Richard ist.«
Kahlan klappte der Mund auf. »Was habt Ihr getan, Cara?«
»Das, was Ihr wolltet. Ich habe die Worte der Winde gesprochen, so wie sie zu mir kamen, aber als ich Euch und Nadine zu den Gebäuden führte, habe ich Euch beide vertauscht. Ich habe Nadine zu Drefan und Euch zu Richard gebracht.
Ich wollte, daß Ihr bei dem Mann seid, den Ihr aufrichtig liebt. Ich habe Euch zu Richard gebracht! Habt Ihr mir nicht vertraut? Habt Ihr mir nicht geglaubt?«
Kahlan fiel ihr in die Arme. »Oh, verzeiht mir, Cara. Ich hätte an Euch glauben sollen. Gütige Seelen, ich hätte Euch vertrauen sollen.«
»Lord Rahl sagte, er sei auf dem Weg in den Saal der Verratenen. Ich wollte wissen, wann er wieder nach Hause kommt. Er erklärte, er sei zu Hause. Er kommt nicht mehr zurück! Was habt Ihr nur getan!«
»Der Saal der Verratenen…« Kahlan brach zusammen. »Ich habe die Prophezeiung selbst erfüllt. Ich habe Richard geholfen, in den Saal der Verratenen zu gelangen. Ich habe ihm geholfen, die Pest aufzuhalten.
Dadurch habe ich ihn vernichtet.
Dadurch habe ich mich selbst vernichtet.«
»Ihr habt noch mehr angerichtet«, sagte Cara leise.
»Was meint Ihr damit?«
Cara zeigte ihr den Strafer. »Mein Strafer. Er hat seine Kraft verloren. Die Kraft einer Mord-Sith entsteht aus den Banden zu unserem Lord Rahl. Sie existiert zum Schutz unseres Herrn. Ohne einen Lord Rahl gibt es keine Bande. Ich habe meine Kraft verloren.«
»Ich bin jetzt Lord Rahl«, sagte Drefan, der sich Kahlan von hinten genähert hatte.
Cara grinste ihn spöttisch an. »Ihr seid kein Lord Rahl. Ihr besitzt die Gabe nicht.«
Drefan hielt ihrem zornerfüllten Blick stand. »Ich bin jetzt der einzige Lord Rahl, den Ihr habt. Jemand muß das D'Haranische Reich zusammenhalten.«
Kahlan preßte sich Richards schwarzes Hemd an den Leib. »Ich bin die Mutter Konfessor. Ich werde das Bündnis zusammenhalten.«
»Du, meine Liebe, hast ebenfalls deine Kraft verloren. Du bist kein Konfessor mehr, viel weniger die Mutter Konfessor.« Er faßte Kahlan unterm Arm. Mit schmerzhaftem Griff zog er sie auf die Beine. »Du bist jetzt meine Frau und wirst tun, was ich dir befehle. Du hast geschworen, mir zu gehorchen.«
Cara streckte die Hand aus und wollte ihn zwingen, Kahlan loszulassen. Drefan schlug ihr mit dem Handrücken quer über den Mund und schleuderte sie zu Boden.
»Und Ihr, Cara, seid jetzt eine zahnlose Schlange. Solltet Ihr den Wunsch haben hierzubleiben, werdet Ihr mir gehorchen müssen. Wenn nicht, dann habe ich keine Verwendung mehr für Euch. Zur Zeit wissen nur wir, daß Euer Strafer nicht funktioniert. Belaßt es dabei. Ihr werdet mich beschützen wie jeden Lord Rahl.«