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Wecke ihn! befahl die Stimme in ihrem Kopf.

Verna schrie. Es war, als wäre sie über und über mit Wespen bedeckt, die alle gleichzeitig zustachen. Vollkommen außer sich schlug sie sich auf Arme, Schultern, Beine und Gesicht. Von Panik ergriffen, schrie sie und schlug um sich, immer und immer wieder.

Wecke ihn! erklang die Stimme abermals in ihrem Kopf.

Die Stimme Seiner Exzellenz.

Verna schnappte sich einen Lappen aus dem Eimer. Sie drehte Warrens Kopf herum. Er lag mit dem Gesicht auf dem Tisch, die Arme ausgestreckt, bewußtlos. Sie betupfte ihm mit dem nassen Lappen die Wangen, seine Stirn. Mit zitternden Fingern strich sie ihm das Haar nach hinten. Er war nicht lange bewußtlos gewesen, daher hatte sie gute Chancen, ihn wieder zu sich zu bringen.

»Warren. Warren, bitte wach auf. Warren!«

Er stöhnte im Fieberwahn. Sie preßte ihm den Lappen auf die Lippen. Mit der anderen Hand rieb sie ihm den Rücken und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Es brach ihr das Herz, zu sehen, wie ihn die Schmerzen so quälten, nicht nur die des Traumwandlers, sondern auch die der Gabe, die außer Kontrolle geraten war. Sie legte ihm die Finger in den Nacken und ließ einen warmen Strom ihres Han in seinen Körper fließen, in der Hoffnung, das werde ihm Kraft geben und ihn zu Bewußtsein bringen.

»Warren«, greinte sie, »wach bitte auf. Bitte, wach auf, mir zuliebe, sonst gerät Seine Exzellenz in Zorn. Bitte, Warren.«

Die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie scherte sich nicht darum. Sie mußte nur Warren aufwecken, sonst würde Seine Exzellenz sie beide leiden lassen. Nie hätte sie geahnt, daß Widerstand so zwecklos sein konnte. Und nie hätte sie gedacht, daß man sie so leicht überzeugen könnte, alles zu verraten, an das sie glaubte.

Sie konnte ihre Lieben nicht einmal dadurch schützen, daß sie sich selbst tötete. Versucht hatte sie es. Und wie sie es versucht hatte! Er ließ es nicht zu. Er wollte sie lebend, damit sie für ihn arbeiten konnten.

Jetzt wußte sie, es mußte stimmen: Richard war tot. Die Bande zu ihm waren gerissen, und sie waren dem Traumwandler schutzlos ausgeliefert. Er drang nach Belieben in ihren Verstand ein. Mit beängstigender Leichtigkeit zwang Jagang ihr seinen Willen auf. Es war, als hätte sie nicht einmal mehr die Kontrolle über ihre einfachsten Handlungen. Wenn Jagang es wollte, hob sich ihr Arm, und ihr blieb nichts anderes übrig, als tatenlos dabei zuzusehen. Er beherrschte ihren Gebrauch des Han. Ohne die Bande war sie machtlos.

Warren gab erneut ein halbbewußtloses Ächzen von sich. Endlich bewegte er sich wieder aus eigener Kraft. Offenbar war nur Verna imstande, ihn zu wecken, wenn die Gabe ihm das Bewußtsein raubte. Nur deshalb hatte Jagang sie nicht in die Zelte geschickt.

Die innige Verbindung zu ihr genügte, um Warren wachzurütteln. Sie wußte, es war gefährlich, ihn zu wecken, wenn die Gabe ihm das Bewußtsein raubte – was diese tat, um sein Durchhaltevermögen zu stärken, bis er geeignete Hilfe fand –, aber sie hatte keine Wahl. Sie weckte ihn mit ihrer Liebe und brachte ihn auf diese Weise dem Tod einen kleinen Schritt näher. Jagang scherte das alles nicht, solange Warren tat, was man ihm befahl.

»Verzeih«, murmelte Warren. »Ich … ich konnte nicht…«

»Ich weiß«, tröstete ihn Verna. »Ich weiß. Wach jetzt auf. Seine Exzellenz wünscht, daß wir weiterarbeiten. Wir müssen weiterarbeiten.«

»Ich … kann nicht. Ich kann nicht, Verna. Mein Kopf–«

»Bitte, Warren.« Verna konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Der Schmerz von eintausend Wespen, die am ganzen Körper gleichzeitig zustachen, machte es unmöglich, stillzuhalten. Sie zuckte unablässig. »Du weißt, wie er uns bestrafen wird, Warren. Bitte, Warren, du mußt wieder an die Bücher. Ich hole sie hierher. Sag mir einfach, welche du brauchst. Ich werde sie dir holen.«

Er nickte und stemmte sich hoch. Er wurde zusehends wacher. Verna schob die Lampe zu ihm hin und drehte den Docht nach oben. Sie zog das Buch heran, in dem er gelesen hatte, bevor er ohnmächtig geworden war, und tippte auf die Seite.

»Hier, Warren. Hier. Das ist die Stelle, an der du warst. Seine Exzellenz möchte wissen, was das bedeutet.«

Warren preßte sich die Fäuste an die Schläfen. »Ich weiß es nicht! Bitte, Exzellenz, ich weiß es nicht. Ich kann die Visionen der Propheten nicht nach Belieben herbeirufen. Ich bin noch kein Prophet. Ich stehe erst am Anfang.«

Warren stieß einen Schrei aus und krümmte sich auf seinem Stuhl.

»Ich werde es versuchen! Ich werde es versuchen! Bitte, laßt es mich versuchen!«

Warren schnaufte, als der quälende Schmerz nachließ. Er beugte sich über das Buch und leckte sich über die Lippen. Seine Finger zitterten, als er sie auf das Buch legte und der Zeile mit den Worten folgte, den Worten der Prophezeiung.

»›Eine beschönigende Sicht der Vergangenheit‹«, murmelte er, für sich selbst lesend. »›Eine beschönigende Sicht der Vergangenheit leistet derselben, zu einem neuen Zweck entstellten Geringschätzung Vorschub, denn ein neuer Herrscher…‹ Gütiger Schöpfer, ich habe keine Ahnung, was das bedeutet. Bitte, gib mir die Vision ein.«

Clarissa blickte hinaus in die Finsternis, als die Kutsche schaukelnd stehenblieb. Die Luft hing voller Staub, der sie wie ein Gespenst begleitete. Unmittelbar vor dem Kutschenfenster erhob sich eine steinerne Festung. Es war dunkel, und sie konnte nicht das ganze Gebäude erkennen, aber was sie sah, ließ ihr Herz heftig pochen.

Sie wartete, die Finger ineinanderflechtend, bis der Soldat den Schlag öffnete.

»Clarissa«, meinte er leise. »Wir sind da.«

Clarissa ergriff seine Hand, als sie in die tiefschwarze Nacht hinausstieg. »Danke, Walsh.«

Der andere von Nathans Soldatenfreunden, ein Mann namens Bollesdun, wartete oben auf dem Bock des Kutschers und hielt die Zügel straff.

»Beeilt Euch«, bat Walsh. »Nathan hat gesagt, er möchte nicht, daß Ihr Euch dort länger als ein paar Minuten aufhaltet. Wenn irgend etwas schiefgeht, werden wir beide allein Euch kaum raushauen können.«

Sie wußte, daß das stimmte. Die Zahl der Zelte, an der sie vorbeigeritten waren, hatte sie überwältigt und bestürzt. Verglichen mit den Soldatenmassen hier waren die Horden, die Renwold überrannt hatten, ein Nichts gewesen.

Clarissa zog sich die Kapuze ihres Gewandes über. »Seid ganz unbesorgt, ich werde schon nicht herumtrödeln. Nathan hat mir genau erklärt, was ich zu tun habe.«

Sie raffte ihr Gewand zusammen. Sie hatte es Nathan versprochen. Er hatte so viel für sie getan. Er hatte ihr das Leben gerettet. Sie würde ihm diesen Gefallen tun, damit andere nicht sterben mußten.

So verängstigt sie war, für Nathan würde sie alles tun. Auf der ganzen Welt gab es keinen besseren Mann. Keinen Mann, der gütiger war, mitfühlender oder mutiger.

Walsh ging neben ihr, als sie ein eisernes Fallgitter passierten und kurz darauf in einen Durchgang unter einem Faßgewölbe traten. Zwei brutal aussehende Posten in Fellumhängen und mit scheußlich aussehenden Waffen behangen standen neben einer zischenden Fackel.

Clarissa hielt ihren Umhang fest geschlossen und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Den Kopf hielt sie so, daß die Posten sie im Schatten nicht erkennen konnten. Sie überließ das Reden Walsh, wie man sie angewiesen hatte.

Walsh deutete mit einer knappen Handbewegung auf sie. »Die Abgesandte des Generalbevollmächtigten seiner Exzellenz, Lord Rahl«, sagte er mit mürrischem Unterton, als sei er darüber unglücklich, daß ihm diese Aufgabe zugefallen war.

Der bärtige Wachmann grunzte. »Ich weiß schon Bescheid.« Er deutete mit dem Daumen auf die Tür. »Geht rein. Offenbar werdet ihr bereits erwartet.«

Walsh zog seinen Waffengurt zurecht. »Gut. Ich muß sie heute nacht noch zurückfahren. Soll man das für möglich halten? Sie lassen uns nicht mal Zeit bis morgen. Dieser Lord Rahl ist so fordernd, wie man sich nur denken kann.«