Verna klappte das Kinn herunter. Warrens Stuhl scharrte über den Boden, als er sich hastig erhob.
»Habt Ihr verstanden?« fragte Clarissa besorgt. »Wenn, dann solltet Ihr Euch beeilen.«
»Aber, Nathan … wir können doch unmöglich…«
»Nun«, setzte Clarissa hinzu, »ich muß zurück zu Lord Rahl. Er erwartet mich. Ich habe eine Kutsche, und ich muß schnellstens fort von hier.«
Vernas Blick ging hoch zu Walsh. Er nickte ihr zu.
Sie fiel auf die Knie. Sie schnappte nach Warrens violettem Gewand und zog ihn neben sich herunter.
»Mach schon, Warren!« Sie faltete die Hände und senkte den Kopf. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. »Herrscher Rahl, führe uns. Herrscher Rahl, beschütze uns. In deinem Licht gedeihen wir. In deiner Gnade finden wir Schutz. Deine Weisheit erfüllt uns mit Demut. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«
Warren sprach die Worte ebenfalls, wenn auch mit einer kleinen Verzögerung.
Verna verharrte wie erstarrt einen Augenblick auf den Knien, die Hände immer noch zum Gebet gefaltet. Plötzlich stieß sie einen Freudenschrei aus. Sie lachte wie eine Irre.
»Dem Schöpfer sei Dank! Meine Gebete wurden erhört! Ich bin frei! Er ist fort! Ich spüre, daß er aus meinen Gedanken verschwunden ist!«
Clarissa seufzte erleichtert. Nathan hatte sie gewarnt, wenn Verna dies nicht gelänge, müßte sie auf der Stelle sterben.
Verna und Warren umarmten sich weinend vor Freude. Clarissa packte sie beide und drängte sie aufzustehen.
»Wir müssen fort von hier, aber vorher möchte Lord Rahl, daß ich noch etwas erledige. Ich muß nach einigen Büchern suchen.«
»Nach Büchern?« fragte Warren. »Nach welchen Büchern?«
»Der Zwilling des Berges, Sellerons Siebente Aufgabe, Das Buch der Umkehrung und Verdopplung und Zwölf letzte Worte zur Vernunft.«
Warren wandte sich den Büchern auf dem Tisch zu. »Zwölf letzte Worte, das ist dieses hier. Ich glaube, ein paar von den anderen habe ich ebenfalls gesehen.«
Clarissa ging zu den Regalen. »Helft mir suchen. Nathan möchte wissen, ob sie sich hier befinden. Er muß es unbedingt wissen.«
Zusammen überflogen sie die Titel auf den Buchrücken und waren gezwungen, mehrere herauszuziehen und aufzuschlagen, bei denen er außen nicht draufstand. Sie fanden alle, bis auf Das Buch der Umkehrung und Verdoppelung.
Clarissa klopfte sich den Staub von den Händen. »Das wird genügen müssen. Nathan sagte, möglicherweise befänden sie sich nicht alle hier. Wenn nur eines fehlt, ist das mehr, als wir erhoffen konnten.«
»Was hat Nathan mit den Büchern vor?« wollte Warren wissen.
»Er möchte verhindern, daß sie Jagang in die Hände fallen. Er sagt, es sei gefährlich, wenn der Traumwandler sie in die Finger bekäme.«
»Sie können alle gefährlich werden«, meinte Verna.
»Das überlaßt nur mir«, sagte Clarissa und schob das Buch auf dem Tisch wieder zurück an einen leeren Platz im Regal. »Nathan mußte nur wissen, welche von ihnen sich hier befinden. Jetzt können wir gehen.«
Verna hielt Clarissa am Ärmel fest. »Zwei Freundinnen von mir sind noch hier. Wir müssen sie mitnehmen. Ihr habt gesagt, Ihr hättet eine Kutsche. Wir könnten alle zusammen fliehen.«
»Wer denn?« fragte Walsh.
»Janet und Amelia.«
Walsh gab ein wissendes Brummen von sich, als Clarissa zur Tür hinüberblickte. »Aber Nathan hat gesagt –«
»So versteht doch, wenn sie auch den Eid auf … auf Lord Rahl leisten, können sie fliehen.« Verna berührte den Ring in Clarissas Unterlippe. »Ihr macht Euch keine Vorstellung, was die Frauen hier erdulden müssen. Habt Ihr Amelias Gesicht gesehen?«
»Ich weiß durchaus, wie sie einen behandeln«, erwiderte Clarissa leise und erinnerte sich an die grauenhaften Bilder aus Renwold. »Werden sie den Eid leisten?«
»Selbstverständlich. Würdet Ihr das nicht, wenn Ihr dadurch von hier fliehen könntet?«
Clarissa schluckte. »Dafür würde ich alles tun.«
»Dann beeilt Euch«, drängte Warren. »In der Kutsche ist genug Platz, aber wir müssen uns eilen.«
Mit einem kurzen Nicken schlüpfte Verna zur Tür hinaus.
Während Verna die beiden anderen holen ging, öffnete Clarissa die Spange an der dünnen Goldkette um ihren Hals. Warren sah stirnrunzelnd zu, wie Clarissa einem der unteren Regale ein Buch entnahm und es dann auf den Tisch legte.
Clarissa legte das Medaillon in die Lücke. Vorsichtig klappte sie es auf. Mit einem Finger schob sie es bis ganz nach hinten an die Wand. Sie winkte Warren herbei. Er gab ihr das Buch zurück, das sie herausgenommen hatte. Clarissa schob es an seinen Platz zurück.
»Was habt Ihr getan?« fragte Warren.
»Was Nathan mir aufgetragen hat.«
Verna kam in den Raum geplatzt, zwei strahlende Frauen an den Händen. Eine von ihnen war die mit dem zerschundenen Gesicht, Schwester Amelia.
»Sie haben den Eid geschworen«, rief Verna ganz außer Atem. »Sie sind Lord Rahl über die Bande verpflichtet. Und jetzt nichts wie fort von hier.«
»Wird auch Zeit«, meinte Walsh. Für Verna hatte er ein kleines Lächeln übrig. Für Clarissa stand sofort fest, daß die beiden sich kannten.
Walsh nahm Clarissas Arm, dann führten sie die anderen nach draußen, um denselben Weg durch die Festung zurückzugehen, den sie gekommen waren. Das dunkle, nässende Gestein stank nach Moder. Im Innern der Festung begegneten sie nur wenigen Wachen, da die meisten mit Jagang fortgezogen waren.
Nathan hatte erzählt, Jagang reise stets mit großer Begleitung und führe große runde Zelte mit, die alle Annehmlichkeiten eines Palastes boten. Unter den Zurückgelassenen schien es einige vereinzelte Offiziere und Wachen zu geben sowie einige jener Frauen, die Jagang und seinen Truppen als Sklavinnen dienten.
Sie bogen um eine Ecke, da kam ihnen eine dieser Sklavinnen mit zwei dampfenden Töpfen entgegen, dem Geruch nach gefüllt mit Lammeintopf. Sie war genauso gekleidet wie die anderen Frauen, die Clarissa gesehen hatte – außer Verna. Die Kleider, die sie trugen, wie im Fall von Janet und Amelia, hatten in Clarissas Augen mit Bekleidung nichts zu tun. Genausogut hätten die Frauen nackt herumlaufen können.
Als die Frau aufblickte und sie, insbesondere Walsh, kommen sah, wich sie unwillkürlich zum Rand des Flures aus, um ihnen Platz zu machen.
Clarissa blieb schlagartig stehen und starrte die Frau an, deren Blick auf den Boden gerichtet war.
»Manda?« erkundigte sich Clarissa leise. »Manda Perlin, seid Ihr das?«
Manda hob den Kopf. »Ja, Herrin?«
»Manda, ich bin es, Clarissa. Aus Renwold. Ich bin Clarissa.«
Die junge Frau musterte Clarissa von Kopf bis Fuß, ihr teures Kleid, ihren Schmuck, das zu Locken aufgedrehte Haar. Mandas und Clarissas Blicke trafen sich, und erstere riß die Augen auf.
»Seid Ihr es wirklich, Clarissa?«
»Aber ja.«
»Ich habe Euch kaum … wiedererkannt. Ihr seht so … anders aus. Ihr seht so…« Alle Lebendigkeit wich aus ihrem Gesicht. »Hat man Euch denn auch zu Hause gefangengenommen? Wie ich sehe, tragt Ihr einen Ring.«
»Nein. Ich wurde nicht gefangengenommen.«
Mandas Augen füllten sich mit Tränen. »Das ist gut. Ich bin so froh, daß sie Euch dort nicht erwischt haben. Es war –«
Clarissa schloß die junge Frau in die Arme. Während all der Jahre, die Clarissa sie kannte, hatte Manda nie so viele Worte zu ihr gesagt, und die sie gesagt hatte, waren nicht nett gewesen. Sie hatte Manda für ihre grausamen Bemerkungen, für ihren derben Spott, ihre herablassenden Blicke stets gehaßt. Jetzt tat sie ihr leid.
»Wir müssen fort von hier, Manda. Wollt Ihr mit uns kommen?«
Verna packte Clarissas Arm. »Das geht auf gar keinen Fall!«
Clarissa funkelte Verna wütend an. »Ich bin gekommen, weil ich Euch retten wollte. Ich erlaube Euch, Eure Freundinnen mitzunehmen. Dann möchte ich meine Freundin ebenfalls hier rausschaffen.«