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»Vielleicht, hättest du uns beim ersten Mal die Wahrheit gesagt. Aber nach dem ersten mißlungenen Versuch, die Bande über Richards Tod hinaus aufrechtzuerhalten, hat Seine Exzellenz uns bestraft. Das Risiko gehen wir nicht noch einmal ein.«

»Tut das nicht«, flehte Verna. »Wir sind doch Freundinnen. Ich bin gekommen, um euch zu retten. Bitte, tut es nicht. Schwört den Eid, und ihr seid frei!«

»Oh, Schätzchen, ich fürchte, das kann sie nicht.« Das war nicht allein Amelias Stimme, da klang noch eine andere mit. Die Stimme, die Verna in ihrem Kopf vernommen hatte: die von Jagang. Plötzlich fing sie an zu zittern, nur weil sie seinen Tonfall und seine Art zu sprechen aus Amelias Stimme heraushörte.

»Und nun, mein treuer und ergebener Generalbevollmächtigter, gebt mir das Buch. Schwester Amelia und ich haben noch Verwendung dafür.«

Nathan hielt es ihr hin, ohne hinzusehen. Mit ihrer freien Hand, die nicht den Dacra in seinem Bein umklammert hielt, riß Amelia das Buch wieder an sich.

»Was ist«, erkundigte sich Nathan, »werdet Ihr uns nun töten oder nicht?«

»Oh, ja, ich habe die Absicht, Euch zu töten«, erklärte Amelia mit Jagangs Stimme. »Außerdem habe ich nicht gerne Untergebene, die mich nicht in ihren Verstand hineinlassen.

Ich dachte, bevor ihr sterbt, lasse ich euch zusehen, wie wirkliche Sklaven Befehlen gehorchen. Ich dachte, vielleicht möchtet ihr mir dabei zusehen, wie ich der kleinen süßen Clarissa die Kehle aufschlitze.«

Atme.

Kahlan stieß die Sliph aus ihren Lungen und sog in panikartiger Gier die fremdartige Luft in sich auf. Nacht brach von allen Seiten über sie herein. Sie nahm sich erst gar nicht die Zeit, sich vor ihrem plötzlichen Sehvermögen zu ängstigen, dem plötzlich wiedererwachten Gehör Zeit zu lassen, sich wieder in ihrem Verstand einzurichten, sondern packte statt dessen die Steinmauer und stemmte sich hoch.

Ein Bild des Schreckens bot sich ihren Augen – passend zu den Worten, die sie bereits gehört hatte. Dank ihres durch die Sliph geschärften Sehvermögens erfaßte sie die gesamte Szene mit einem Blick.

Kahlan erkannte Nathan im Augenblick, als sie ihn sah. Er sah aus wie ein Rahl, außerdem hatte Richard ihr von ihm erzählt – er sei groß, älter, mit langem weißem Haar bis auf die Schultern. Eine Frau hatte ihm einen Dacra ins Bein gestochen und hielt ihn dort fest. Ihren Namen hatte Kahlan bereits gehört: Amelia – dieselbe, die die Pest über das Land gebracht hatte. Kahlan erblickte Verna und dahinter eine weitere Frau. Ein junger Mann stand wie erstarrt da. Kahlan sah eine wunderhübsche junge Frau, die eine andere Frau festhielt, indem sie ihr eine Hand in die zu Löckchen aufgedrehten Haare krallte – das konnte nur Clarissa sein. Mit der anderen Hand hatte die Frau Clarissa ein Messer an die Kehle gesetzt.

Beim Auftauchen aus der Sliph hatte Kahlan den letzten Teil der eben stattgefundenen Unterhaltung mitbekommen und wußte sehr wohl, wessen Stimme es war, die da aus dem Mund der Frau sprach, die Nathan den Dacra ins Bein bohrte. Diese Stimme, so erinnerte sie sich, hatte sie aus dem Mund des Zauberers Marlin gehört, der erschienen war, um Richard hinterrücks zu ermorden. Sie gehörte Jagang.

Das Bild des Amuletts, das Richard trug, erschien ungefragt vor ihrem inneren Auge. Es bedeutet nur eins, und alles: Hast du dich erst entschlossen zu kämpfen, schneide. Alles andere ist zweitrangig. Schneide.

Von ihrem Vater, der Soldat gewesen war, hatte sie etwas Ähnliches gelernt: Töten oder getötet werden. Weiche niemals. Warte niemals. Greife an.

Richard blickte dem Tod ins Gesicht – würde bald seinen letzten Atemzug tun. Sie hatte keine Zeit zu verlieren, keine Zeit abzuwägen. Sie hatte sich entschieden. Schneide.

In einer einzigen fließenden Bewegung schoß sie aus der Sliph hervor, sprang aus dem Brunnen, riß einem der dort stehenden Soldaten das Kurzschwert aus der Scheide, duckte sich, warf sich nach vorn und kam wieder auf die Beine, als das Schwert sich bereits peitschenschnell senkte.

In der Spanne eines Herzschlags, noch bevor jemand mit der Wimper zucken konnte, war Kahlan zur Stelle. Sie mußte Amelia aufhalten, bevor die ihre Magie in den Dacra strömen ließ, sonst würde Nathan sterben. Blitzschnell senkte sich die Klinge und trennte Schwester Amelias Arm in der Ellenbeuge ab.

Und dann bewegte sich alles wie in einem quälend langsamen Tanz. Kahlan sah den Ausdruck in jedem einzelnen Gesicht. Die Frau, die Kahlan soeben verletzt hatte, Schwester Amelia, zuckte mit einem Aufschrei zurück. Schon kreiste Kahlans Schwert, damit sie den Griff wechseln konnte, während sie ihrem Opfer nach unten folgte. Verna, den Dacra in der Hand, drehte sich blitzschnell zu der überraschten Frau hinter ihr um. Der junge Mann warf sich auf die Frau mit dem Messer. Nathan hob die Hände und wollte nach Clarissa greifen. Sein Schrei zerriß die Nacht.

Clarissa streckte die Hände nach Nathan aus. Die junge Frau, die sie an den Haaren festhielt, schien sie mit ihrem fiesen Grinsen zu verhöhnen, während sie ihr mit ruppigem Schnitt die Kehle aufschlitzte.

Kahlan sah die Gischt aus Blut nur einen winzigen Augenblick, dann explodierte die Nacht zu Blitzen, die sowohl von Nathan als auch von Warren stammten.

Beide Hände jetzt dicht nebeneinander, rammte Kahlan das Schwert Schwester Amelia mitten durchs Herz und nagelte sie im Erdboden fest, bevor der zweite Soldat sein Schwert noch aus der Scheide befreit hatte.

Vernas Dacra beförderte die Frau hinter ihr blitzschnell im selben Augenblick ins Jenseits, als die junge Frau mit dem Messer zwei Blitze trafen, die sie zu einer schaurigen Gischt aus Rot zerplatzen ließen, noch während Clarissas lebloser Körper zu Boden sank.

Die Gewalttätigkeiten waren vorbei, bevor der Verstand sie recht erfassen konnte.

Benommen torkelte Nathan auf Clarissas leblosen Körper zu. Kahlan schoß an ihm vorbei und kniete neben Clarissa. Der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie aufstöhnen.

Kahlan sprang auf und hielt Nathan mit beiden Händen zurück. »Zu spät, Nathan. Sie weilt jetzt bei den Seelen. Seht nicht hin. Seht bitte nicht hin. Ich habe in ihren Augen die Liebe bemerkt, die sie für Euch empfunden hat. Bitte seht sie nicht in diesem Zustand an. Behaltet sie so in Erinnerung, wie sie war.«

Nathan nickte. »Sie hatte ein gutes Herz. Sie hat so viele Menschen gerettet. Sie hatte ein gutes Herz.« Nathan hob die Arme. Er drehte die Handflächen zu Clarissas Leiche. Ein intensives Licht schoß aus ihnen hervor und überflutete die Tote mit einem gleißenden Feuer, das so strahlend hell war, daß man den Leichnam in seiner Mitte nicht mehr erkennen konnte.

»Aus dem Licht dieses Feuers ins Licht. Eine sichere Reise in die Welt der Seelen«, sprach Nathan leise. Als die Flamme verschwunden war, blieb nur noch Asche zurück.

Der Zauberer sackte in sich zusammen. »Die anderen können sich die Geier holen.«

Verna schob ihren Dacra in den Ärmel zurück. Einer der Soldaten zerrte sein Schwert aus Amelias Leiche, während der andere sein nicht benutztes Schwert in die Scheide zurückschob.

Der junge Mann schien unter Schock zu stehen. »Es tut mir so leid, Nathan. Ich habe Jagang die Bedeutung der Prophezeiung verraten, die ihm geholfen hat. Ich wollte nicht, aber er hat mich dazu gezwungen. Es tut mir so leid.«

Nathans traurige, himmelblaue Augen richteten sich auf den jungen Mann. »Verstehe, Warren. Du hast es nicht in böser Absicht getan. Der Traumwandler war in deinen Verstand eingedrungen, und du hattest keine Wahl. Jetzt bist du ihn los.«

Er zog den Dacra aus seinem Bein und wandte sich Verna zu.

»Ihr habt Verräter zu mir geführt, Verna. Und Meuchelmörder. Aber ich weiß, es lag nicht in Eurer Absicht. Manchmal ist die Prophezeiung stärker als unser Versuch, sie zu überlisten, und erwischt uns in einem unbedachten Augenblick. Manchmal halten wir uns für klüger, als wir sind, und glauben, das Schicksal aufhalten zu können, wenn wir es nur stark genug wollen.«

Verna zog ihren Umhang über ihren Schultern zurecht. »Ich war in dem Glauben, sie vor Jagang zu retten. Ich hatte keine Ahnung, daß sie den Eid auf Euch schwören würden, ohne sich Euch von ganzem Herzen zu verpflichten.«