Kahlan schüttelte den Kopf. »Bitte, Richard, tu, was ich sage, wenn du mich liebst. Heile Cara. Was er mit ihr angestellt hat, ist meine Schuld. Meine Schuld.« Eine Träne lief ihr über die Wange. »Ich habe das Buch verloren. Ich kann dich nicht retten. Heile Cara.« Sie unterdrückte ein Schluchzen. »Dann werden wir bald auf ewig Zusammensein.«
Er verstand. Sie würden beide sterben. Sie würden in der Welt der Seelen Zusammensein. Sie wollte ohne ihn nicht weiterleben.
Richard gab ihr einen Kuß auf die Stirn. »Halte durch. Gib nicht auf. Bitte, Kahlan, ich liebe dich. Gib nicht auf.«
Richard drehte sich zu Cara um. Seine Übelkeit war mittlerweile so groß, daß ihr Anblick kaum noch eine Wirkung auf ihn hatte. Aber ihr Leiden setzte ihm so sehr zu, daß er sich krümmte.
Er legte seine Hände auf Caras blutverschmierten, aufgerissenen Bauch.
»Ich bin da, Cara. Haltet durch. Haltet mir zuliebe durch, damit ich Euch heilen kann.«
Sie warf murmelnd den Kopf von einer Seite auf die andere und schien seine Worte nicht zu hören.
Richard schloß die Augen und öffnete sein Herz, sein Verlangen, seine Seele. Er gab sich ganz dem Strom seines Mitgefühls hin. Er hatte nur den Wunsch, Cara wieder gesund zu machen. Sie hatte sich mit Leib und Seele für sie beide aufgeopfert. Er wußte nicht, ob er noch über genügend Kraft verfügte, aber er gab sich dem Versuch vollkommen hin.
In die strudelnden Tiefen ihrer Qual stieg er hinab. Er spürte alles, was sie spürte, teilte ihr Leid. Mit zusammengebissenen Zähnen und angehaltenem Atem nahm er ihre Schmerzen auf sich, weiter und weiter, schonungslos gegen sich selbst.
Er schüttelte sich vor Qualen, und sein Verstand schrie gepeinigt auf. Er nahm alles auf sich und verlangte nach mehr. Er wollte alles. Er forderte es.
Die Welt verwandelte sich in einen einzigen fließenden, gewundenen Strom aus Schmerzen. Von diesem Strom wurde er fortgerissen. Ihre sengende Glut verschlang alles Sein.
Zeit verlor jegliche Bedeutung. Was blieb, war Schmerz.
Als er spürte, daß er alles in sich aufgesogen hatte, ließ er sein Mitgefühl herausströmen, seine Kraft: seine Heilkraft, sein heilendes Wesen.
Er wußte nicht, wie er die Kraft lenken sollte, er ließ sie einfach in sie hineinströmen. Es war, als würde sein ganzes Selbst von ihrem Verlangen aufgesogen. Sie war verbrannte, ausgedörrte Erde, die den lebensspendenden Regen gierig in sich aufnahm.
Als er schließlich die Augen öffnete und den Kopf hob, lagen seine Arme auf der glatten weichen Haut ihres Bauches. Sie schien sich dessen noch nicht recht bewußt zu sein, dennoch war sie wieder genesen.
Richard drehte sich um. Kahlan lag auf der Seite, ihr Atem ging in kurzen, heftigen Stößen. Ihr Gesicht war aschfahl und von Schweiß und Blut verschmiert, die Augen halb geschlossen.
»Richard«, hauchte sie, als er sich über sie beugte, »mach mir die Hände los. Ich will in deinen Armen liegen, wenn ich…«
Wenn sie starb. Das hatte sie sagen wollen.
Hastig hob Richard ein ganz in der Nähe liegendes Messer vom Boden auf und durchtrennte ihre Stricke. Der Zorn war wieder da, jetzt jedoch nur noch als fernes Glühen. Er konnte den Raum kaum mehr erkennen. Sie kaum mehr hören. Sie kaum sehen.
Als sie die Hände endlich frei hatte, schlang sie einen Arm um seinen Hals und zog ihn zu sich. Richard hatte Mühe zu verhindern, daß er auf sie fiel.
»Richard, Richard, Richard«, flüsterte sie. »Ich liebe dich.«
Richard wollte sie gerade umarmen, als er die immer größer werdende Blutlache unter ihr entdeckte.
Sein Zorn flammte von neuem auf. Sein Verlangen flammte erneut auf.
Er nahm sie in die Arme und flehte die Seelen an, sie zu verschonen.
»Bitte gebt mir die Kraft, meine Liebste zu heilen«, flüsterte er mit tränenerstickter Stimme. »Ich habe alles getan, was man von mir verlangt hat. Ich habe alles aufgegeben. Bitte, es darf nicht sein, daß ich auch noch meine Liebste verliere. Ich liege im Sterben. Laßt mir genügend Zeit. Helft mir.«
Mehr wollte er nicht, mehr verlangte er nicht, als er sie jetzt in den Armen hielt. Sie sollte überleben. Er wollte, daß es ihr wieder gutging und sie wieder gesund wurde.
Sie fest an sich drückend, überließ er sich ein weiteres Mal dem reißenden Strom. Er nahm die Schmerzen vorbehaltlos auf sich, hieß sie willkommen, lockte sie mit aller Kraft an.
Gleichzeitig ließ er seine Liebe fließen, seine Wärme, sein Mitgefühl.
Kahlan stöhnte.
Richard sah, daß seine Arme glühten, als teile eine Seele seinen Körper mit ihm. Vielleicht war er bereits zu einer Seele geworden, doch das alles kümmerte ihn nicht. Ihn kümmerte nur, ob er sie heilen würde – und nicht, was ihn das kosten mochte. Er war bereit, jeden Preis zu zahlen.
Kahlan stöhnte, als sie spürte, wie die Kraft in ihren Körper zurückströmte. Ihre Beine fingen an zu kribbeln. Zum ersten Mal, seit Drefan auf sie eingestochen hatte, spürte sie wieder etwas.
Richard schien sie mit einem Glühen zu umgeben, während er sie in seinen wärmenden, liebevollen Armen hielt.
Verglichen damit war die Wonne der Sliph eine Folter. Es überstieg alles, was sie in ihrem Leben je gefühlt hatte. Sie spürte, wie seine wärmende, heilende Magie durch jede Faser ihres Körpers strömte.
Ihr schien, als würde sie neu geboren. Leben und Lebendigkeit stiegen in ihr hoch. Tränen des Glücks lösten sich aus ihren Augen, während sie, vollkommen überwältigt von der Magie, in seinen Armen lag.
Als er sie endlich freigab, konnte sie sich ohne Schmerzen bewegen, auch die Beine wieder. Sie fühlte sich gesund. Sie war geheilt.
Richard wischte ihr das Blut von den Lippen und sah ihr in die Augen.
Kahlan kniete mit ihm auf dem Boden und küßte ihn, wobei sie ihre gemeinsamen, salzigen Tränen schmeckte.
Sie löste sich von ihm, nahm ihn bei den Armen, und es war, als sähe sie ihn in einem völlig neuen Licht. Soeben hatte sie etwas mit ihm geteilt, das jenseits aller Worte, jenseits jeder Möglichkeit des Verstehens lag.
Kahlan erhob sich und reichte ihm die Hand, um ihm aufzuhelfen. Richard wollte danach greifen.
Dann fiel er vornüber auf sein Gesicht.
»Richard!« Sie ließ sich zu Boden fallen und wälzte ihn auf den Rücken. Er atmete kaum noch. »Richard, bitte. Verlaß mich nicht. Bitte verlaß mich nicht!«
Sie packte ihn bei den Schultern. Er glühte vor Fieber. Seine Augen waren geschlossen. Jeder flache Atemzug bereitete ihm große Mühe.
»Es tut mir so leid, Richard. Ich habe das Buch wieder verloren. Bitte, Richard. Ich liebe dich. Stirb nicht und laß mich nicht allein.«
»Hier«, war eine Stimme zu vernehmen, die durch den Raum hallte.
Kahlan hob den Kopf. Die Stimme hatte etwas Unwirkliches. Sie verstand nicht. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
Kahlan wirbelte herum und sah das quecksilbrige Gesicht der Sliph, das auf sie herabblickte. Ein flüssiger Silberarm hielt ihr das schwarze Buch hin.
»Mein Herr und Meister benötigt dies«, sagte die Sliph. »Nimm es.«
Kahlan riß das Buch an sich. »Danke! Danke, Sliph!«
Sie sank nieder, um den Zauberersand zu holen, den Richard in den Ledertaschen bei sich trug, doch er hatte seinen Übergürtel nicht angelegt.
Sie lief hinüber zu Cara, die noch immer mit Stricken gefesselt war. Cara wälzte vor sich hinmurmelnd den Kopf von einer Seite zur anderen, als hätte sie nicht mitbekommen, daß Richard sie geheilt hatte. Noch immer war sie im Kerker ihres eigenen Grauens gefangen.
Zedd hatte Kahlan erklärt, die Gabe könne Krankheiten des Geistes nicht heilen.
»Cara! Cara, wo hattet Ihr Richard untergebracht? Wo sind seine Sachen?«
Die Mord-Sith zeigte keinerlei Reaktion. Kahlan schnappte sich das Messer vom Fußboden und durchtrennte die Stricke. Cara blieb einfach reglos liegen.