»Michael? Also, das überrascht mich wirklich nicht. Richard liebte Michael. Der ist ein wichtiger Mann, aber er hat so einen häßlichen Charakterzug. Wenn er etwas will, ist ihm egal, wem er damit weh tut. Zwar hatte niemand den Mumm, es offen auszusprechen, aber ich glaube nicht, daß irgend jemand allzu unglücklich war, als er verschwand und nicht mehr wiederkam.«
»Er starb in der Schlacht gegen Darken Rahl.«
Auch über diese Neuigkeit schien Nadine nicht sonderlich betrübt. Kahlan erwähnte nicht, daß Richard Michael hatte hinrichten lassen, weil er so viele Schutzbefohlene verraten hatte und für den Tod Unzähliger verantwortlich war.
»Darken Rahl versuchte, eine Magie zu benutzen, die jeden unter seiner Herrschaft zum Sklaven gemacht hätte. Richard floh, tötete seinen richtigen Vater und rettete uns alle. Darken Rahl war ein Zauberer.«
»Ein Zauberer! Und Richard hat ihn besiegt?«
»Ja. Wir alle stehen tief in seiner Schuld, weil er uns vor dem Schicksal bewahrt hat, das sein Vater der ganzen Welt zugedacht hatte.«
»Richard ist ebenfalls ein Zauberer?«
Nadine lachte, denn sie hielt das für einen Scherz. Kahlan lächelte nicht einmal. Cara stand mit versteinerter Miene da. Nadine machte große Augen.
»Das war Euer Ernst, nicht wahr?«
»Ja. Zedd war sein Großvater. Zedd war ein Zauberer, genau wie Richards richtiger Vater. Richard wurde mit der Gabe geboren, doch weiß er nicht viel darüber, wie er von ihr Gebrauch machen kann.«
»Zedd ist ebenfalls verschwunden.«
»Anfangs begleitete er uns. Er kämpfte gemeinsam mit uns und versuchte, Richard zu helfen, vor kurzem jedoch, während einer Schlacht, ist er verschwunden. Ich fürchte, er wurde oben bei der Burg der Zauberer getötet, auf dem Berg oberhalb von Aydindril. Richard will nicht glauben, daß Zedd tot ist.« Kahlan zuckte die Achseln. »Vielleicht hat er ja recht. Der alte Mann war der einfallsreichste Mensch, dem ich, abgesehen von Richard, je begegnet bin.«
Nadine wischte sich mit dem Taschentuch die Nase. »Richard und dieser verrückte alte Mann waren die allerbesten Freunde. Das meinte Richard vorhin, als er sagte, sein Großvater habe ihm alles über Kräuter beigebracht. Alle kommen zu meinem Vater, wenn sie Arzneien wollen. Mein Vater weiß so gut wie alles über Kräuter, und ich hoffe eines Tages auch nur die Hälfte seiner Kenntnisse zu besitzen. Mein Vater sagt aber immer, er wüßte gerne halb so viel wie der alte Zedd. Ich hatte keine Ahnung, daß Zedd Richards Großvater war.«
»Niemand wußte es, nicht einmal Richard selbst. Das ist eine lange Geschichte. Ich werde Euch ein paar der wichtigeren Einzelheiten erzählen.« Kahlan sah auf ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen. »Nachdem Richard Darken Rahl Einhalt geboten hatte, wurde er von den Schwestern des Lichts in die Alte Welt verschleppt, damit sie ihn im Gebrauch der Gabe unterweisen konnten. Sie hielten ihn im Palast der Propheten gefangen, in einem Netz aus Magie, das den Lauf der Zeit verlangsamte. Über Jahrhunderte hätten sie ihn dort behalten. Wir dachten, er sei für uns verloren.
Wie sich herausstellte, war der Palast der Propheten von Schwestern der Finsternis unterwandert, deren Ziel darin bestand, den Hüter der Unterwelt zu befreien. Sie versuchten, Richard für diesen Zweck einzuspannen, er entkam ihnen jedoch und konnte ihre Pläne vereiteln. Dabei wurden die Türme der Verdammnis, die die Alte und die Neue Welt voneinander trennten, zerstört.
Jetzt wird Kaiser Jagang von der Imperialen Ordnung aus der Alten Welt nicht mehr von diesen Türmen in seiner Freiheit beschnitten und versucht, die gesamte Welt unter seine Herrschaft zu bringen. Er will Richards Tod, weil der seine Pläne vereitelt hatte. Jagang verfügt über Macht und eine gewaltige Armee. Wir wurden, ohne es zu wollen, in einen Krieg verwickelt, in dem es um unser aller Schicksal, unsere Freiheit und unsere nackte Existenz geht. In diesem Krieg ist Richard unser Anführer.
In seiner Eigenschaft als Oberster Zauberer ernannte Zedd Richard zum Sucher der Wahrheit. Dieser Titel stammt aus alter Zeit und wurde vor drei Jahrtausenden während des großen Krieges geschaffen. Es handelt sich dabei um eine feierliche Überantwortung der Rechtschaffenheit, die nur Zeiten größter Not gewährt wird. Ein Sucher ist nur seinem eigenen Gesetz verantwortlich und unterstreicht seine Autorität mit dem Schwert der Wahrheit und der in ihm enthaltenen Magie.
Gelegentlich streift uns alle das Schicksal auf eine Weise, die wir nicht immer verstehen. Aber Richard scheint es manchmal in tödlichem Griff zu haben.«
Nadine hatte die Augen aufgerissen, jetzt kniff sie sie endlich fassungslos zusammen. »Richard? Warum ausgerechnet Richard? Wieso steht er im Mittelpunkt all dieser Geschehnisse? Er ist doch bloß ein Waldführer. Er ist doch nur ein Niemand aus Kernland.«
»Daß junge Katzen im Kaminofen geboren werden, heißt nicht, daß sie dadurch zu Weckchen werden. Ganz gleich, wo sie geboren wurden, sie sind dazu bestimmt, aufzuwachsen und loszuziehen, um Ratten zu töten.
Richard ist eine ganz besondere Art Zauberer: ein Kriegszauberer. Er ist der erste Zauberer seit dreitausend Jahren, der mit beiden Seiten der Gabe geboren wurde: der Additiven und der Subtraktiven. Das alles hat er sich nicht ausgesucht. Er tut es, weil wir alle auf seine Hilfe angewiesen sind, um unsere Freiheit zu retten. Es ist nicht Richards Art, tatenlos daneben zu stehen und mitanzusehen, wie anderen Menschen Leid angetan wird.«
Nadine schaute zur Seite. »Ich weiß.« Sie spielte ungeschickt mit dem Taschentuch in ihren Fingern. »Ich habe Euch vorhin ein bißchen angelogen.«
»Wann?«
Sie seufzte schwer. »Nun, als ich Euch von Tommy und Lester erzählte. Ich wollte, daß es sich so anhörte, als hätte ich ihnen die Schneidezähne ausgeschlagen. In Wahrheit war ich auf dem Weg zu Richard. Wir wollten Spazierengehen und nach ahornblättriger Schlinge suchen. Mein Vater brauchte etwas von der Innenrinde für einen Absud für ein kleines Kind mit einer Kolik, und sie war ihm ausgegangen. Richard wußte, wo etwas davon wuchs.
Wie auch immer, auf dem Weg durch den Wald zu Richards Haus stieß ich auf Tommy Lancaster und seinen Freund Lester, die gerade von der Taubenjagd kamen. Tommys Annäherungsversuche habe ich vor den Augen einiger seiner Kumpels zurückgewiesen und ihn wie einen Tölpel aussehen lassen. Ich glaube, dabei habe ich ihm sogar eine Ohrfeige verpaßt und ihn beschimpft.
Das wollte er mir heimzahlen, als er mich im Wald traf. Er bat Lester, mich festzuhalten, und er … na ja, er hatte seine Hosen schon bis zu den Knien heruntergeschoben, da tauchte Richard auf. Tommy bekam sofort weiche Knie. Richard sagte, sie sollten machen, daß sie verschwinden, und er wolle ihren Vätern alles erzählen.
Statt Vernunft anzunehmen und tatsächlich zu verschwinden, beschlossen die beiden, ein paar Vogelpfeile auf Richard abzuschießen, um ihm eins auszuwischen, damit er sich in Zukunft gefälligst um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte. Deswegen haben Tommy und Lester keine Schneidezähne mehr. Er sagte ihnen, das sei dafür, was sie mir hatten antun wollen. Dann zerbrach er ihre wertvollen Eibenholzbogen und erklärte, das sei für das, was sie ihm hatten antun wollen. Zu Tommy sagte er, wenn er noch einmal versuchen würde, mir so etwas anzutun, würde er ihm sein Dings abschneiden, Ihr wißt schon, was ich meine.«
Kahlan lächelte. »Das klingt ganz wie der Richard, den ich kenne. Das hört sich nicht so an, als hätte er sich sehr verändert. Nur sind die Tommys und Lesters mittlerweiler größer und gemeiner.«
Nadine zuckte zaghaft mit den Achseln. »Schon möglich.« Sie sah auf, als Cara ihr die Blechtasse hinhielt, die sie aus dem Krug auf dem Waschtisch gefüllt hatte. Nadine trank einen kleinen Schluck. »Ich kann nicht glauben, daß es Menschen gibt, die Richard tatsächlich umbringen wollen.« Sie lächelte naiv. »Selbst Tommy und Lester wollten ihm nur die Zähne ausschlagen.« Sie setzte die Tasse in ihren Schoß ab. »Und daß sein eigener Vater ihn töten wollte! Ihr sagtet, Darken Rahl habe Richard foltern lassen. Warum hat er das getan?«