Kahlan zögerte. »Wovon redest du?«
Sein Raubtierblick wanderte von Cara zu Kahlan. »Ich habe von Eurer anrührenden Liebe zu Richard Rahl erfahren. Wie aufmerksam von Euch, mir die Grenzen seiner Gabe zu offenbaren. Ich hatte vieles schon vermutet, Ihr habt es mir bestätigt. Ihr habt mir außerdem verraten, daß er andere mit der Gabe erkennen kann und daß diese seinen Verdacht erregen. Selbst Ihr habt bemerkt, daß mit Marlins Augen etwas nicht in Ordnung ist.«
»Wer seid Ihr?« fragte Kahlan, während sie Nadine mit zurück zur Leiter schob.
Marlin schüttelte sich vor Lachen. »Nun, niemand anderes als Euer schlimmster Alptraum, meine kleinen Schätzchen.«
»Jagang?« fragte Kahlan leise und ungläubig. »Ist es das? Seid Ihr Jagang?«
Das kehlige Lachen hallte an den steinernen Mauern der Grube entlang. »Ihr habt mich entlarvt. Ja, ich gestehe. Ich bin es, der Traumwandler höchstpersönlich. Ich habe mir die Seele dieses armen Kerls geborgt, damit ich euch einen kleinen Besuch abstatten kann.«
Cara schmetterte ihm den Strafer seitlich gegen den Hals. Ein Arm wie der von einer Marionette schlug sie zur Seite.
Fast augenblicklich war sie wieder zurück, prügelte ihm hart auf die Nieren ein und versuchte, ihn zu Boden zu werfen. Er rührte sich nicht von der Stelle. Mit ruckenden Bewegungen griff er nach unten, erwischte sie am Zopf und schleuderte sie gegen die Wand hinter sich, als sei sie eine Stockpuppe. Kahlan zuckte innerlich zusammen, als Cara gegen die Mauer klatschte. Sie blieb mit dem Gesicht zum Boden liegen. Blut sickerte in ihr blondes Haar.
Kahlan stieß Nadine zur Leiter. »Raus hier!«
Nadine ergriff eine Leitersprosse. »Was wollt Ihr tun?«
»Ich habe genug gesehen. Jetzt ist hier Schluß.«
Kahlan ging auf Marlin oder Jagang oder wer immer es war los. Sie mußte dem Kerl mit ihrer Kraft ein Ende machen.
Mit einem Aufschrei schoß Nadine an Kahlan vorbei und rutschte über den Boden, als gleite sie über Eis. Der Mann schnappte sich die um sich schlagende Frau, riß sie herum und packte sie mit einer Hand am Hals. Nadine, die Augen aufgerissen, rang würgend nach Atem.
Kahlan blieb abrupt stehen, da Marlin sie mit erhobenem Zeigefinger warnte. »Nichts da. Ich zerquetsche ihr die Kehle.«
Die Mutter Konfessor wich einen Schritt zurück. Nadine schnappte japsend nach Luft, als er den Griff ein wenig lockerte.
»Ein einziges Leben für all die anderen, die du sonst töten würdest? Glaubt Ihr, die Mutter Konfessor wäre nicht bereit, eine solche Entscheidung zu treffen?«
Nach Kahlans Worten erwachte in Nadine erneut Panik, und sie versuchte, sich aus dem Griff zu befreien. Sie schlug ihm ungestüm die Krallen in die Hände. Selbst wenn Marlin ihr nicht die Kehle zerquetschte, er berührte sie, und wenn Kahlan ihn mit ihrer Kraft überwältigte, wäre auch das Mädchen verloren.
»Vielleicht würdet Ihr es tun, aber wollt Ihr nicht wissen, was ich hier mache, Schätzchen? Wollt Ihr nicht wissen, was ich mit Eurem Geliebten vorhabe, dem großen Lord Rahl?«
Kahlan drehte sich um und schrie nach oben: »Collins! Schließt die Tür. Verriegelt sie!«
Sofort fiel die Tür mit lautem Knall zu. Nur die fauchenden Fackeln erhellten die Grube noch. Das hallende Echo der Tür verschmolz mit dem Zischen der Fackeln.
Kahlan wandte sich wieder zu Marlin um. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, begann sie ihn langsam zu umkreisen. »Was seid Ihr? Und wer?«
»Nun, um ehrlich zu sein, ist das eine schwierige philosophische Frage, wenn man sie mit Worten erklären will, die Ihr begreift. Ein Traumwandler ist in der Lage, sich in die grenzenlosen Zeiträume zwischen den Gedanken einzuschleichen, in denen ein Mensch in seiner Persönlichkeit, in seinem ureigenen Selbst nicht existiert, und dort den Verstand des Menschen zu besetzen. Was Ihr vor Euch seht, ist Marlin, ein ergebenes, kleines Schoßhündchen von mir. Ich bin die Zecke auf seinem Rücken, die er mit in dieses Haus geschleppt hat. Er ist ein Wirt, dessen ich mich für … bestimmte Zwecke bediene.«
Nadine schlug nach dem Mann, der sie festhielt, und zwang ihn dadurch, fester zuzudrücken, damit sie ihm nicht entwischte. Kahlan schürzte die Lippen und bat sie flehentlich, still zu sein. Wenn sie sich weiter gegen ihn wehrte, würde sie noch stranguliert werden. Das Mädchen griff nach Kahlans Bitte wie nach einer Rettungsleine, beruhigte sich und konnte wenigstens wieder atmen.
»Euer Wirt wird bald ein toter Wirt sein«, erwiderte Kahlan.
»Er ist unverzichtbar. Unglücklicherweise – für Euch – ist der Schaden, Marlin sei Dank, bereits angerichtet.«
Mit einem verstohlenen Seitenblick überzeugte sich Kahlan, daß sie sich der mit dem Gesicht auf dem Boden liegenden Cara ganz langsam immer weiter näherte. »Wieso? Was hat er getan?«
»Nun, Marlin hat Euch und Richard in meinem Namen die Flügel gestutzt. Natürlich steht euch beiden noch einiges durch mich bevor, aber vollbracht hat er es. Ich hatte das Privileg, Zeuge dieser prachtvollen Tat zu sein.«
»Was habt Ihr getan? Was tut Ihr hier in Aydindril?«
Jagang lachte stillvergnügt in sich hinein. »Nun, ich habe mich amüsiert. Gestern habe ich mir sogar ein Ja'La-Spiel angesehen. Ihr wart dort. Richard Rahl war dort. Ich habe Euch beide gesehen. Nun, allerdings hat es mir nicht gefallen, daß er den Broc gegen einen leichteren ausgetauscht hat. Er hat es zu einem Spiel für Schwächlinge gemacht. Es muß mit einem schweren Ball gespielt werden und von den kräftigsten, aggressivsten und brutalsten Spielern – von denen, die am meisten nach dem Sieg gieren.
Wißt Ihr eigentlich, was Ja'La bedeutet, Kleines?«
Kahlan schüttelte den Kopf und stellte dabei eine Liste auf, welche Möglichkeiten ihr blieben und was sie am dringendsten tun mußte. Ganz oben auf der Liste stand, daß sie diesen Mann mit Hilfe ihrer Kraft aufzuhalten hatte, bevor er aus der Grube entkam, aber zuerst mußte sie soviel wie möglich in Erfahrung bringen, wenn sie seine Pläne vereiteln wollten. Einmal hatte sie bereits versagt. Ein zweites Mal konnte sie sich das nicht erlauben.
»Das Wort stammt aus meiner Muttersprache. Der volle, eigentliche Name lautet Ja'La dh Jin – Das Spiel des Lebens. Es gefällt mir nicht, wie Richard es verfälscht und verdorben hat.«
Kahlan hatte Cara fast erreicht. »Ihr habt Euch also in die Seele dieses Mannes eingeschlichen, damit Ihr herkommen und Kindern bei einem Spiel zusehen konntet? Ich dachte, der große und mächtige Kaiser Jagang hätte Wichtigeres zu tun.«
»Oh, ich habe Wichtigeres getan. Viel Wichtigeres.« Er grinste. »Seht doch, Ihr dachtet, ich sei tot. Daher wollte ich Euch nur zur Kenntnis bringen, daß es Euch nicht gelungen ist, mich im Palast der Propheten umzubringen. Ich war nicht einmal dort. Um genau zu sein, habe ich mich zu dieser Zeit mit den Reizen einer jungen Dame vergnügt. Einer meiner frisch gefangenen Sklavinnen.«
»Na schön, Ihr seid nicht tot. Ihr hättet uns einen Brief schicken können, dann hättet Ihr Euch nicht all die Mühe machen müssen. Ihr seid aus einem anderen Grund hier. Außerdem seid Ihr mit einer Schwester der Finsternis hierhergekommen.«
»Schwester Amelia hatte eine Besorgung zu erledigen, aber ich fürchte, sie ist keine Schwester der Finsternis mehr. Sie hat ihren Eid an den Hüter der Unterwelt verraten, damit ich Richard Rahl vernichten konnte.«
Kahlan stieß Cara mit dem Fuß an. »Warum habt Ihr uns das nicht alles vorher schon erzählt, als wir Marlin gefangengenommen haben? Warum habt Ihr bis jetzt gewartet?«
»Nun, ich mußte warten, bis Amelia mit dem zurückkam, was ich sie holen geschickt hatte. Es ist nicht meine Art, Risiken einzugehen, müßt Ihr wissen. Das ist vorbei.«
»Und was hat sie für Euch in Aydindril gestohlen?«