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Marlin war mit einem Satz auf der Leiter, während Kahlan und Nadine noch damit rangen, sich voneinander zu lösen.

Der Zauberer kletterte die Leiter wie eine Katze einen Baum hinauf.

Die Fackeln erloschen und tauchten den Kerker in Dunkelheit.

Jagang stieg lachend nach oben. Cara schrie, als würde sie in Stücke gerissen. Endlich gelang es Kahlan, Nadine zur Seite zu stoßen und auf Händen und Knien in die Richtung zu kriechen, aus der sie Jagangs spöttisches Gelächter hörte. Sie spürte, daß ihr das Blut den gesamten Ärmel durchtränkte.

Die Eisentür flog explosionsartig auf und prallte scheppernd gegen die Wand auf der anderen Seite des Ganges. Jetzt, wo die Tür verschwunden war, wurde die Leiter wieder in Licht getaucht. Kahlan rappelte sich auf und stürzte auf sie zu.

Sie wollte gerade nach der Leiter greifen, als der Schmerz in ihrer Schulter sie mit einem Aufschrei zurückzucken ließ. Kahlan faßte sich an die Schulter und riß den spitzen Gesteinssplitter heraus. Das Blut, das sich dahinter angestaut hatte, spritzte aus der Wunde.

So schnell sie konnte, krabbelte Kahlan hinauf, Marlin hinterher. Sie mußte ihn aufhalten. Niemand sonst war dazu in der Lage. In Richards Abwesenheit war sie für all diese Menschen die Magie gegen die Magie. Ihr verletzter Arm zitterte vor Anstrengung, und sie konnte sich kaum an den Sprossen festhalten.

»Beeilt Euch!« rief Nadine unmittelbar hinter ihr. »Er entkommt uns noch!«

Caras Schreie von unten zerrten an Kahlans Nerven.

Kahlan hatte die furchtbare Qual eines Strafers für den Bruchteil einer Sekunde gespürt. Genau diesen Schmerz erlitten Mord-Sith, wann immer sie ihren Strafer in die Hand nahmen, niemals zuckten sie dabei jedoch auch nur mit der Wimper. Mord-Sith lebten in einer Welt der Schmerzen, jahrelanges Foltern hatte ihre Fähigkeit geschult, sie zu ignorieren.

Kahlan konnte sich nicht vorstellen, was eine Mord-Sith dazu bringen konnte, so zu schreien.

Was immer Cara zusetzte, es war kurz davor, sie umzubringen, daran bestand für Kahlan nicht der geringste Zweifel.

Ihr Fuß glitt von einer Sprosse ab. Ihr Schienbein schlug schmerzhaft gegen die darüber liegende Sprosse. Sie riß ihr Bein zurück. Sie hatte es eilig, zu Jagang zu kommen. Dabei schürfte sie sich die Haut ab und blieb an einem langen Splitter hängen, den sie sich schließlich in die Wade bohrte. Sie fluchte vor Schmerz und stürmte die Leiter hoch.

Als sie oben durch die Öffnung krabbelte, rutschte sie aus und stürzte in einem Chaos von Gedärm auf Hände und Knie. Unterkommandant Collins starrte sie aus toten Augen an. Die zersplitterten Enden weißer Rippenknochen ragten in die Höhe und drückten das aufgerissene Leder und den Kettenpanzer seiner Uniform auseinander. Sein gesamter Oberkörper war von der Kehle bis zur Leistengegend aufgeschlitzt.

Ungefähr ein Dutzend Männer wälzte sich in Todesqualen auf dem Boden. Andere lagen starr da. Schwerter steckten bis zum Heft in den Mauern. Auch Äxte steckten dort fest, als handele es sich bei dem Stein um weiches Holz.

Ein der Magie fähiger Gegner hatte wie mit einer Sichel unter diesen Männern gewütet, aber nicht ohne eigene Verluste. Ganz in der Nähe lag ein Arm, knapp oberhalb des Ellenbogens abgetrennt. Nach der Kleidung daran zu urteilen gehörte er Marlin. Die Finger seiner Hand öffneten und schlossen sich langsam und gleichmäßig.

Kahlan stemmte sich hoch und drehte sich zur Tür. Sie packte Nadine an den Handgelenken und half ihr herauf in den Gang.

»Vorsicht.«

Nadine stockte der Atem, als sie das viele Blut sah. Kahlan erwartete, daß sie in Ohnmacht fallen oder hysterisch schreien würde, aber das tat sie nicht.

Von links kamen mit Schwertern, Äxten, Spießen und Bogen schwerbewaffnete Soldaten herbeigeeilt. Nach rechts hin war der Gang leer und lag hinter einer einsamen Fackel still und dunkel da. Kahlan wandte sich nach rechts. Man mußte Nadine zugute halten, daß sie ihr ohne Zögern folgte.

Die Schreie, die aus der Grube nach oben drangen, jagten Kahlan einen Schauder über den Rücken.

10

Hinter der letzten, zischenden Fackel verlor sich der Gang in Dunkelheit. Ein Soldat lag zusammengesunken an der Seite wie ein Haufen schmutziger Wäsche, die darauf wartet, abgeholt zu werden. Sein schwarzverkohltes Schwert lag mitten im Gang, die Klinge zu einem verdrehten Gewirr aus ineinander verschlungenen Stahlstreifen zersplittert.

Kahlan blieb stehen und blickte angestrengt in die reglose Stille, die vor ihr lag. Nichts war dort zu erkennen, nichts war von dort zu hören. Marlin konnte sich überall aufhalten, konnte sich in einem Nebengang verstecken, konnte mit Jagangs selbstzufriedenem Grinsen im Gesicht in einem Winkel lauern, den Verfolgern den Garaus zu machen.

»Ihr bleibt hier, Nadine!«

»Nein. Ich sagte bereits, wir beschützen unsere Leute. Er will Richard töten. Das lasse ich ihm nicht durchgehen, nicht solange ich noch die Chance habe zu helfen.«

»Die einzige Chance, die Ihr habt, besteht darin, daß Ihr getötet werdet.«

»Ich komme mit.«

Kahlan hatte weder Zeit noch Lust auf Diskussionen. Wenn Nadine unbedingt mitkommen wollte, dann sollte sie sich wenigstens nützlich machen. Kahlan mußte die Hände frei haben.

»Dann nehmt die Fackel dort.«

Nadine riß sie aus der Halterung und wartete.

»Ich muß ihn berühren«, erklärte ihr Kahlan. »Wenn ich ihn berühre, kann ich ihn töten.«

»Wen, Marlin oder Jagang?«

Kahlans Herz pochte laut in ihrer Brust. »Marlin. Wenn Jagang in seinen Verstand eindringen konnte, dann kann er vermutlich auch wieder heraus. Aber wer weiß? Zumindest wären wir Jagang fürs erste los, und sein Günstling wäre tot. Damit hätte die Sache ein Ende. Vorläufig.«

»War es das, was Ihr unten in der Grube versucht habt? Was habt Ihr damit gemeint, man müsse sich entscheiden, ein Leben für alle anderen?«

»Jetzt hört mir einmal zu. Hier geht es nicht um irgendeinen Tommy Lancaster, der Euch vergewaltigen will, wir haben es vielmehr mit einem Mann zu tun, der versucht, uns alle umzubringen. Ich muß ihn daran hindern. Wenn ein anderer ihn zur selben Zeit berührt wie ich, dann wird er mit ihm zusammen vernichtet. Ich werde nicht zögern, wenn Ihr oder jemand anderes ihn berührt. Habt Ihr das verstanden? Ich kann es mir nicht leisten zu zögern. Dafür steht zuviel auf dem Spiel.«

Nadine nickte. Sie richtete ihren Zorn auf die bevorstehende Aufgabe.

Kahlan fühlte, wie ihr das Blut von den Fingerspitzen ihrer linken Hand tropfte. Vermutlich würde sie den linken Arm nicht heben können, und den rechten brauchte sie, um Marlin zu berühren. Nadine konnte wenigstens die Fackel halten. Hoffentlich beging sie damit keinen Fehler. Falls Nadine sie nun behinderte?

Und hoffentlich erlaubte sie dem Mädchen nicht aus den falschen Gründen, sie zu begleiten.

Nadine nahm Kahlans rechte Hand und legte sie ihr auf die linke, verwundete Schulter. »Wir haben jetzt keine Zeit, das zu verbinden. Drückt die Wunde so fest zusammen, wie Ihr könnt, bis Ihr Eure Hand braucht, sonst verliert Ihr zuviel Blut und könnt nicht tun, was Ihr tun müßt.«

Leicht verärgert folgte Kahlan ihrer Anweisung. »Danke. Wenn Ihr schon mitkommt, dann haltet Euch hinter mir und leuchtet mir einfach nur den Weg. Wenn die Soldaten ihn nicht aufhalten können, was wollt Ihr dann ausrichten? Ich will nicht, daß Euch unnötig etwas zustößt.«

»Verstanden. Ich bin unmittelbar hinter Euch.«

»Vergeßt nicht, was ich gesagt habe, und kommt mir nicht in die Quere.« Kahlan stellte sich auf die Zehenspitzen und wandte sich an die Soldaten. »Setzt Eure Pfeile und Speere ein, wenn Ihr Gelegenheit zum Schuß bekommt, aber haltet Euch hinter mir. Holt noch mehr Fackeln. Wir müssen ihn in die Enge treiben.«

Einige von ihnen trabten zurück, um Fackeln zu holen, während Kahlan sich auf den Weg machte. Nadine leuchtete ihr und verfiel in leichten Trab, um Schritt zu halten. Die Flamme flackerte und fauchte, beleuchtete Wände, Decke und Boden in einem kleinen Umkreis und erzeugte dadurch eine tanzenden Insel aus Licht in einem Meer aus Dunkelheit. Dicht dahinter erzeugten die Soldaten ihre eigenen Lichtinseln. Während sie so liefen, hallte ein schweres Keuchen durch den Gang, das sich mit den Stiefeltritten, dem leisen Klingeln der Kettenpanzer, dem Klirren von Stahl und dem Zischen der Flammen paarte.