Und über alledem hörte Kahlan im Geist noch immer Caras Schreie.
An einer Kreuzung blieb sie stehen, versuchte keuchend, wieder zu Atem zu kommen und schaute erst nach vorn und dann in den Gang, der nach rechts abzweigte.
»Hier!« Nadine zeigte auf das Blut am Boden. »Er ist hier entlang gelaufen!«
Kahlan warf einen Blick nach vorn in die Dunkelheit. Dort gelangte man zum Treppenhaus und anschließend nach oben in den Palast. Der Gang, der nach rechts abzweigte, führte unter dem Palast hindurch in ein Labyrinth aus Lagerräumen, aufgegebenen Bereichen, die beim Bau des Palastes ausgehöhlt worden waren, Zugangstunneln für die Wartung der Grundmauern sowie Abflußkanälen für das Grundwasser. Mächtige Steinroste verhinderten am Ende der Abflußkanäle, wo das Wasser unter den Grundmauern hinweg durch mächtige Steinroste nach draußen floß, daß jemand in den Palast gelangte.
»Nein«, meinte Kahlan. »Hier entlang – nach rechts.«
»Aber das Blut«, protestierte Nadine. »Er ist hier entlang gelaufen.«
»Bis zu dieser Stelle war kein Blut zu sehen. Das Blut soll uns ablenken. Dieser Weg führt hinauf in den Palast. Jagang ist hier entlang gelaufen, wo niemand ist.«
Nadine folgte, als Kahlan den Gang rechts betrat. »Aber warum sollte es ihn scheren, daß dort Leute sind? Er hat all die Soldaten dort hinten getötet oder verwundet!«
»Und denen ist es gelungen, ihm einen Arm abzuhacken. Marlin ist verwundet. Jagang wird es egal sein, ob wir den Zauberer töten, doch wenn es ihm gelingt zu fliehen, kann er mit Marlin noch schlimmeres Unheil anrichten.«
»Was kann er denn noch Schlimmeres anrichten, als Menschen zu verletzen? All die Menschen oben und die Soldaten?«
»Die Burg der Zauberer«, sagte Kahlan. »Jagang verfügt, was die Magie betrifft, lediglich über seine Fähigkeiten als Traumwandler, allerdings kann er einen Menschen, der die Gabe besitzt, für seine Zwecke einspannen. Nach dem, was ich bis jetzt gesehen habe, weiß er nicht viel darüber, wie man die Magie von anderen benutzt. Was er da hinten gemacht hat, dieser einfache Gebrauch von Luft und Hitze, kann man nicht gerade einfallsreich nennen. Jagang fallen nur die einfachsten Dinge ein, wenn er die Magie anderer benutzt, meist brutale Gewalt. Das ist unser Vorteil.
An seiner Stelle würde ich versuchen, in die Burg der Zauberer zu kommen und die Magie dort dazu benutzen, um größtmögliche Verwüstungen anzurichten.«
Kahlan lief auf eine Treppe zu, die man aus dem nackten Fels geschlagen hatte, und nahm jeweils zwei Stufen auf einmal. Unten führte der grobe, tunnelähnliche Gang in zwei Richtungen. Sie drehte sich zu den Soldaten um, die hinter ihr die Treppe hinuntergerannt kamen.
»Teilt euch auf – eine Hälfte in jede Richtung. Das hier ist das unterste Stockwerk. Sichert jede Kreuzung, auf die ihr stoßt. Vergeßt nicht, welchen Weg ihr bei jeder Abbiegung eingeschlagen habt, sonst könnt ihr euch da unten tagelang verlaufen.
Ihr habt gesehen, wozu er fähig ist. Wenn ihr ihn findet, geht kein Risiko ein, indem ihr versucht, ihn zu überwältigen. Stellt Posten auf, damit wir wissen, ob er zurückkommt, und dann holt mich.«
»Wie werden wir Euch finden?«
Kahlan sah nach rechts. »Ich werde mich im Zweifelsfall immer für den rechten Gang entscheiden, auf diese Weise könnt ihr nachvollziehen, welchen Weg ich genommen habe. Wir dürfen ihn nicht hinauslassen. Wenn er die Burg erreicht, kann er dort vielleicht Schilde passieren, die für mich unüberwindlich sind.«
Zusammen mit Nadine und der einen Hälfte der Soldaten eilte Kahlan weiter. Sie stießen auf mehrere Räume, alle leer, und wenig später auf einige weitere Gänge. Bei jeder Abzweigung teilte sie die Gruppe der Soldaten und führte ihre stetig kleiner werdende Truppe nach rechts.
»Was ist das, die Burg der Zauberer?« fragte Nadine, während sie sich durch die Dunkelheit vorantasteten.
»Das ist eine gewaltige Festungsanlage, in der einst Zauberer lebten. Sie wurde noch vor der Zeit des Palastes der Konfessoren erbaut.« Kahlan deutete mit einer Handbewegung auf den Palast, der über ihnen lag. »In einem längst vergessenen Zeitalter wurde so gut wie jeder mit der Gabe geboren. Während der letzten dreitausend Jahre ist die Gabe innerhalb der menschlichen Art fast ausgestorben.«
»Was befindet sich in dieser Burg?«
»Verlassene Gemächer, Bibliotheken, Räumlichkeiten aller Art. Außerdem werden dort magische Gegenstände aufbewahrt. Bücher, Waffen und dergleichen mehr. Schilde schützen die wichtigen oder gefährlichen Teile der Burg. Wer keine Magie besitzt, kann keinen der Schilde passieren. Da ich mit Magie geboren wurde, kann ich zwar einige von ihnen passieren, aber nicht alle.
Die Burg ist riesig. Im Vergleich dazu wirkt der Palast der Konfessoren wie eine beengte Kate. Während des Großen Krieges vor dreitausend Jahren war die Burg mit Zauberern und ihren Familien bevölkert. Richard behauptet, es sei ein Ort voller Leben und Lachen gewesen. Damals besaßen die Zauberer sowohl Subtraktive als auch Additive Magie.«
»Und jetzt nicht mehr?«
»Nein. Nur Richard wurde mit beiden Seiten geboren.«
»Hört sich nach einem grauenhaften Ort an.«
»Ich habe einen großen Teil meines Lebens dort verbracht, habe Bücher über Sprachen studiert und von den Zauberern gelernt. Für mich bildete die Burg stets einen Teil meines Zuhauses.«
»Wo sind diese Zauberer jetzt? Können sie uns nicht helfen?«
»Sie haben sich allesamt am Ende des Sommers, während des Krieges mit Darken Rahl, umgebracht.«
»Sich umgebracht! Wie schrecklich! Warum sollten sie so etwas tun?«
Kahlan schwieg einen Augenblick, derweil sie unermüdlich weiter in die Dunkelheit vordrangen. Das alles kam ihr vor wie ein Traum.
»Wir mußten den Obersten Zauberer finden, damit er den Sucher der Wahrheit ernennt, der wiederum Darken Rahl Einhalt gebieten konnte. Der Oberste Zauberer war Zedd. Er lebte in Westland, jenseits der Grenze. Die Grenze stand mit der Unterwelt in Verbindung, der Welt der Toten. Deshalb konnte sie niemand passieren.
Darken Rahl war ebenfalls hinter Zedd her. Sämtliche Zauberer waren nötig, um eine Magie zu bewirken, die mich durch die Grenze brachte, damit ich Zedd aufspüren konnte. Hätte Darken Rahl die Zauberer gefangengenommen, hätte er sie mit Hilfe seiner ruchlosen Magie zwingen können, ihr Wissen preiszugeben.
Damit ich genug Zeit hätte, mein Ziel zu erreichen, töteten sich die Zauberer selbst. Trotzdem gelang es Darken Rahl, seine Meuchelmörder auf mich anzusetzen. Damals lernte ich Richard kennen. Er hat mich beschützt.«
»Beim Schartenberg?« fragte Nadine in ungläubigem Staunen. »Am Fuß des Felsens hat man vier tote Soldaten gefunden. Sie trugen Lederuniformen und waren bis an die Zähne bewaffnet. Niemand hatte je zuvor solche Soldaten gesehen.«
»Das waren sie.«
»Was war geschehen?«
Kahlan warf ihr einen Seitenblick zu. »Etwas Ähnliches wie das, was Euch mit Tommy Lancaster passierte.«
»Das war Richard? Richard hat diese Soldaten getötet?«
Kahlan nickte. »Zwei von ihnen. Einen weiteren überwältigte ich mit meiner Kraft, und der wiederum tötete den letzten. Wahrscheinlich war es das erste Mal, daß Richard Männern begegnete, die ihm nicht nur eine einfache Abreibung verpassen wollten, nachdem er beschlossen hatte, jemanden zu beschützen. Mich zu beschützen. Seit diesem Tag auf dem Schartenberg hat er eine Menge schwieriger Entscheidungen treffen müssen.«
Sie liefen weiter durch die finsteren, faulig riechenden Gänge, und es kam Kahlan vor wie Stunden, obwohl sie wußte, daß nicht mehr als fünfzehn oder zwanzig Minuten verstrichen sein konnten. Die Gesteinsquader waren hier größer, manchmal so mächtig, daß sie vom Boden bis zur Decke reichten. Sie waren grob behauen, paßten aber nicht weniger exakt aufeinander als das mörtellose Mauerwerk an anderen Stellen des Palastes.