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Marlins Kiefer erschlaffte. Wenn der Verstand eines Menschen durch einen Konfessor zerstört wurde, verwandelte er sich in ein willenloses Werkzeug, das auf Befehle angewiesen war.

Marlin sperrte sich gegen diese Willenlosigkeit.

Blut strömte ihm aus Ohren und Nase. Sein Kopf fiel in der tosenden Strömung zur Seite. Seine toten Augen wurden starr.

Kahlan löste ihren Griff von seinem Hals, als seine Hand am Gitter erschlaffte und das Wasser seinen Körper mitriß. Marlins Leiche stürzte auf die Felsen unten zu.

Kahlan wußte: Um ein Haar hätte sie Jagang gehabt. Sie hatte versagt. Seine Gedanken, seine Fähigkeiten als Traumwandler waren zu schnell, als daß sie ihn mit ihrer Konfessorenmagie hätte packen können.

Nadine streckte die Hand nach ihr aus. »Gebt mir die Hand. Ich kann mich nicht ewig hier festhalten!«

Kahlan faßte ihr Handgelenk. Der Einsatz seiner Kraft beraubte einen Konfessor seiner gesamten Energie. Wenn sie von ihrer Magie Gebrauch gemacht hatte, brauchte sogar Kahlan, die Mutter Konfessor und vielleicht der stärkste je geborene Konfessor, mehrere Stunden, bevor sie ihre Kraft ein weiteres Mal einsetzen konnte. Sie war erschöpft und hatte der Strömung nichts mehr entgegenzusetzen. Hätte Nadine sie nicht festgehalten, wäre sie längst hinuntergetrieben worden.

Mit Nadines Hilfe gelang es Kahlan, sich auf die Trittsteine hinaufzuziehen. Bibbernd vor Kälte zogen sich die beiden hoch.

Nadine brach angesichts der Woge des Grauens, die vorübergezogen war und sie fast mitgerissen hätte, in Tränen aus. Kahlan war zum Weinen zu erschöpft, aber sie wußte, wie Nadine zumute war.

»Ich habe ihn nicht berührt, als Ihr Eure Magie eingesetzt habt, trotzdem dachte ich, mir würde jedes einzelne Gelenk entzweigerissen. Ich habe doch … ich habe doch nichts abbekommen, oder? Keine Magie? Ich werde nicht sterben, oder?«

»Nein, mit Euch ist alles in Ordnung«, versicherte ihr Kahlan. »Ihr habt den Schmerz nur deshalb gespürt, weil Ihr so nahe dran wart, das ist alles. Hättet Ihr ihn allerdings berührt, wäre das sehr viel übler für Euch ausgegangen – Ihr wärt vernichtet worden.«

Nadine nickte nur stumm zur Antwort. Kahlan legte den Arm um sie und flüsterte ihr ein Dankeschön ins Ohr. Nadines Tränen wichen einem Lächeln.

»Wir müssen zurück zu Cara«, sagte Kahlan. »Und zwar schnell.«

»Aber wie? Die Fackel ist heruntergebrannt. An der Außenwand gibt es keinen Weg nach unten, und wenn wir versuchen umzukehren, werden wir uns in der Dunkelheit verlaufen. Es sei denn, die Soldaten kommen und bringen Fackeln mit, um uns den Weg zu leuchten.«

»Nichts ist unmöglich«, erwiderte Kahlan erschöpft. »Wir sind bei jeder Abzweigung rechts abgebogen, also brauchen wir uns auf dem Rückweg immer nur links zu halten.«

Nadine streckte die Hand aus und deutete nach hinten in die völlige Dunkelheit. »In den Gängen mag das ja alles gut und schön sein, aber als wir diesen Abflußkanal betreten haben, sind wir auf die andere Seite gewechselt. Drüben gibt es keine Trittsteine. Wir werden die Öffnung niemals finden.«

»An der Stelle, wo das Wasser in der Mitte des Tunnels über den Trittstein fließt, macht es ein anderes Geräusch. Ist Euch das nicht aufgefallen? Ich werde die Stelle wiederfinden.« Kahlan faßte Nadine bei der Hand, um sie zu ermutigen. »Wir müssen es versuchen. Cara braucht Hilfe.«

Nadine starrte in stummer Qual einen Augenblick lang vor sich hin, dann sagte sie: »Na schön, doch wartet einen Augenblick.«

Sie riß einen Streifen des zerfetzten Saums von Kahlans Kleid, wickelte ihn ihr um den Oberarm und verband damit so provisorisch die Wunde. Kahlan zuckte zusammen, als Nadine den Knoten festzurrte.

»Gehen wir«, meinte Nadine. »Aber seid vorsichtig, bis ich den Riß vernähen und einen Umschlag auflegen kann.«

12

Der Rückweg durch den Abflußtunnel gestaltete sich quälend langsam. Wenigstens blieb ihnen auf dem blinden Marsch, auf dem sie sich am kalten, glitschigen Mauerwerk entlang tasteten, während ihnen das Wasser an den Knöcheln zerrte und sie ständig Angst haben mußten, im Dunkeln in die tosenden Fluten zu stürzen, die grauenhafte Vorstellung erspart, Marlin könnte plötzlich auftauchen, sie an den Beinen packen und in die Tiefe ziehen. Als Kahlan hörte, wie sich das Rauschen des Wassers veränderte und das Echo in den Gang hineinhallte, hielt sie sich an Nadines Hand fest und suchte tastend mit dem Fuß nach dem Trittstein, der über den Kanal führte.

Sie waren schon ein Stück weit durch das dunkle Labyrinth der Tunnel und Gänge zurückgegangen, da fanden die Soldaten sie und leuchteten ihnen mit Fackeln den Weg. Kahlan folgte dem flackernden Schein in einem Zustand dumpfer Benommenheit, während sie immer tiefer in das schwarze Nichts vordrangen. Es kostete sie einige Mühe weiterzugehen. Nichts hätte Kahlan lieber getan, als sich hinzulegen – sogar hier auf den kalten, nassen Steinen.

In den Gängen vor der Grube drängten sich Hunderte wildentschlossener Soldaten. Sämtliche Bogenschützen hatten ihre Pfeile eingelegt. Speere wurden einsatzbereit gehalten, ebenso Schwerter und Äxte. Andere Waffen steckten nach dem Kampf mit Marlin noch immer im Gestein. Sie bezweifelte, daß man sie mit etwas anderem als Magie je herausbekommen würde. Die Toten und Verwundeten waren fortgeschafft worden, aber die Stellen, wo sie gelegen hatten, waren deutlich sichtbar mit Blut markiert.

Aus der Grube drangen keine Schreie mehr.

Kahlan erkannte Kommandant Harris wieder, der zuvor im Saal der Bittsteller gewesen war. »Ist jemand nach unten geklettert, um ihr zu helfen, Kommandant?«

»Nein, Mutter Konfessor.«

Er besaß nicht mal den Anstand, deswegen einen hilflosen Eindruck zu erwecken. D'Haraner fürchteten sich vor Magie und empfanden es nicht als Kränkung ihres Stolzes, das auch zuzugeben. Lord Rahl war die Magie gegen die Magie, und sie waren der Stahl gegen den Stahl. So einfach war das.

Kahlan brachte es nicht über sich, die Männer dafür zu tadeln, daß sie Cara im Stich gelassen hatten. Sie hatten ihre Tapferkeit im Kampf mit Marlin bewiesen. Es war etwas anderes, in die Grube hinunterzusteigen, als gegen etwas zu kämpfen, das aus ihr heraufgeklettert war.

Was ihren Teil des Bundes anbetraf, der Stahl gegen den Stahl, so waren d'Haranische Soldaten bereit, bis in den Tod zu kämpfen. Daher erwarteten sie, daß Lord Rahl seinen Teil erfüllte, und der bestand darin, sich mit der Magie auseinanderzusetzen.

Kahlan sah die Angespanntheit in den wartenden Augen. »Der Zauberer ist tot. Es ist vorbei.«

Überall rechts und links im Gang war ein erleichtertes Aufatmen zu hören, der besorgte Ausdruck auf dem Gesicht des Kommandanten verriet ihr allerdings, daß sie ziemlich mitgenommen aussah.

»Ich denke, wir sollten Hilfe für Euch holen, Mutter Konfessor.«

»Später.« Kahlan begab sich zur Leiter. Nadine folgte ihr. »Seit wann ist sie still, Kommandant?«

»Seit vielleicht einer Stunde.«

»Ungefähr zu der Zeit ist Marlin gestorben. Begleitet uns und nehmt noch ein paar Männer mit, damit wir Cara heraufholen können.«

Cara befand sich auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, in der Nähe der Wand, wo Kahlan sie zuletzt gesehen hatte. Kahlan kniete auf der einen Seite nieder, Nadine auf der anderen, während die Soldaten die Fackeln so hielten, daß sie etwas sehen konnten.

Cara wand sich in Zuckungen. Sie hatte die Augen geschlossen und schrie nicht mehr, aber sie schüttelte sich heftig und schlug mit Armen und Beinen auf den Steinfußboden.

Sie drohte an ihrem eigenen Erbrochenen zu ersticken.

Kahlan packte Cara an der Schulter ihres roten Lederanzugs und zog sie mit einem Ruck zur Seite. »Öffnet ihr den Mund!«

Nadine beugte sich von hinten über sie und drückte mit dem Daumen hinten gegen Caras Kiefer und zwang ihn so nach unten. Mit der anderen Hand drückte sie von oben auf ihr Kinn, damit ihr Mund offenblieb. Kahlan wischte Cara mehrere Male mit zwei Fingern durch den Mund, bis sie ihre Luftröhre freigelegt hatte.