Drefan fuhr mit dem Finger an einer entlang. »Seht Ihr diese hier? Von ihrer linken Schläfe zum linken Bein? Seht her.« Er preßte seine Finger links gegen die Unterseite ihres Schädels, und die Rauchlinie wechselte hinüber auf das rechte Bein. »Da. Dort gehört sie hin.«
»Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Kahlan verwundert.
»Das sind ihre Meridianlinien: der Fluß ihrer Kraft, ihres Lebens. Ihre Aura. Es ist noch mehr als das, aber es ist schwierig, Euch das alles mit ein paar wenigen Worten zu erklären. Ich habe nichts anderes getan als das, was ein Sonnenstrahl tut, der die durch die Luft treibenden Staubpartikel sichtbar macht.«
Nadine war die Kinnlade heruntergeklappt. Sie hockte da wie erstarrt und hielt den rauchenden Löffel. »Wie habt Ihr die Linie dazu gebracht, sich zu bewegen?«
»Dadurch, daß ich eine heilende Kraft mit Hilfe meiner Lebensenergie dorthin gezwungen habe, wo sie benötigt wird.«
»Dann besitzt Ihr Magie.«
»Nein, Übung. Preßt ihre Fersen, wie beim ersten Mal.«
Nadine legte den Löffel beiseite und drückte auf Caras Fersen. Das Gewirr der Linien, die zu den Beinen hinunterführten, drehte und entwirrte sich und verschob sich in einer geraden Linie von den Hüften zu den Beinen.
»Da«, meinte Drefan. »Ihr habt soeben ihre Beine entwirrt. Seht Ihr, wie sie sich beruhigt haben?«
»Das war ich?« fragte Nadine ungläubig.
»Ja. Aber das war der einfache Teil. Seht Ihr das hier?« Er deutete auf ein Geflecht aus Linien, das von ihrem Kopf ausging. »Dies ist der gefährliche Teil dessen, was der Traumwandler angerichtet hat. Es muß rückgängig gemacht werden. Diese Linien deuten darauf hin, daß sie ihre Muskeln nicht kontrollieren kann. Sie kann nicht sprechen, und sie wurde geblendet. Seht Ihr, hier? Diese Linie, die von ihren Ohren nach außen führt und dann wieder zurück zu ihrer Stirn? Das ist die einzige, die korrekt verläuft. Sie kann alles hören und verstehen, was wir sagen, sie kann nur nicht darauf reagieren.«
Jetzt blieb auch Kahlan der Mund offenstehen. »Sie kann uns verstehen?«
»Jedes Wort. Seid versichert, sie weiß, daß wir Ihr zu helfen versuchen. Und nun, bitte, muß ich mich konzentrieren. Dies alles muß in der richtigen Reihenfolge geschehen, sonst verlieren wir sie.«
Kahlan machte eine auffordernde Handbewegung in seine Richtung. »Natürlich. Tut, was Ihr müßt, um sie zu retten.«
Drefan beugte sich über seine Arbeit, arbeitete sich um Caras Körper herum, preßte seine Finger oder seine flache Hand auf verschiedene Stellen ihres Körpers. Ab und zu benutzte er die Messerspitze und schnitt in die Haut. Er entnahm nie mehr als einen Tropfen Blut. Bei fast jedem Handgriff bewegten sich einige der seilartigen Rauchlinien. Sie entwirrten sich, einige legten sich auf Caras Körper, während andere sich in schwungvollem Bogen nach außen krümmten, bevor sie zu einer von ihm behandelten Stelle zurückkehrten.
Als er das Fleisch zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger zusammendrückte, streckten sich nicht nur die Rauchlinien über ihrem Arm, sondern Cara stöhnte erleichtert auf, drehte den Kopf und bewegte die Schultern. Es war überhaupt die erste normale Reaktion, die Cara zeigte. Nachdem er ihr das Messer oben in die Fersen gestochen hatte, japste sie keuchend nach Luft und begann in gleichmäßigem, wenn auch schnellem Rhythmus zu atmen. Ein Gefühl der Erleichterung und Hoffnung durchströmte Kahlan.
Schließlich hatte er sie einmal ganz umrundet und bearbeitete ihren Kopf, indem er ihr die Daumen längs des Nasenrückens und quer über die Stirn aufdrückte. Ihr Körper war vollkommen ruhig und zuckte nicht mehr. Ihre Brust hob und senkte sich mühelos.
Er preßte ihr die Messerspitze zwischen die Augenbrauen. »Das sollte genügen«, murmelte er in sich hinein.
Cara schlug die blauen Augen auf. Ihr Blick suchte herum, bis er Kahlan fand. »Ich habe gehört, was Ihr gesagt habt«, sagte sie leise. »Ich danke Euch, meine Schwester.«
Kahlan lächelte erleichtert. Sie wußte, was sie meinte. Cara hatte tatsächlich mitbekommen, wie Kahlan zu ihr gesagt hatte, sie sei nicht allein.
»Ich habe Marlin erwischt.«
Cara lächelte. »Ihr macht mich stolz darauf, in Euren Diensten zu stehen. Leider war all Eure Mühe, mich zu heilen, umsonst.«
Kahlan runzelte die Stirn. Sie wußte nicht, worauf die Mord-Sith hinauswollte. Cara drehte den Kopf zurück und sah hoch zu Drefan, der sich über sie beugte.
»Wie fühlt Ihr Euch?« erkundigte er sich. »Fühlt sich jetzt wieder alles normal an?«
Sie runzelte die Stirn, und sie bekam einen benommen verwirrten Blick, der an Bestürzung grenzte.
»Lord Rahl?« fragte sie ungläubig.
»Nein. Ich bin Drefan.«
Er schlug seine Kapuze mit beiden Händen zurück. Kahlan bekam große Augen, ebenso Nadine.
»Aber Darken Rahl war auch mein Vater. Ich bin Lord Rahls Halbbruder.«
Kahlan starrte ihn verwundert an. Dieselbe Größe, derselbe muskulöse Körperbau wie bei Richard. Blondes Haar wie das von Darken Rahl, wenn auch kürzer und nicht so glatt. Richards Haar war dunkler und nicht so fein. Drefans Augen, eher stechend blau wie die von Darken Rahl als grau wie Richards, wiesen dennoch die gleiche raubvogelhafte Schrägstellung auf. Seine Züge besaßen dieselbe unfaßbare Perfektion einer Statue wie die von Darken Rahl. Diese grausame Vollkommenheit hatte Richard nicht geerbt. Drefans Äußeres, irgendwo in der Mitte zwischen beiden, neigte ein wenig mehr zu Darken Rahl als zu Richard.
Aber obschon kein Mensch Drefan mit Richard verwechseln würde, hätte niemand Mühe zu erkennen, daß sie Brüder waren.
Sie fragte sich, wieso Cara dieser Irrtum unterlaufen war. Dann sah sie den Strafer in Caras Faust. Mit ›Lord Rahl‹ hatte Cara gar nicht ihn gemeint. Sie hatte in ihrem verwirrten Zustand keinesfalls Richard in ihm gesehen.
Sie hatte ihn für Darken Rahl gehalten.
14
In der vollkommenen Stille hörte man nur, wie Richard mit dem Daumennagel auf eine der Spitzen des zurückgebogenen Handschutzes seines Schwertes klickte. Der Ellenbogen seines anderen Armes ruhte auf dem polierten Tisch, während er den Kopf mit dem Daumen unter seinem Kinn und dem Zeigefinger an seiner Schläfe stützte. Gelassener Miene bemühte er sich, seinen Zorn im Zaum zu halten. Er war außer sich. Diesmal waren sie zu weit gegangen, und das wußten sie.
In Gedanken war er die gesamte Liste mit möglichen Strafen durchgegangen, hatte sie aber allesamt verworfen, nicht weil sie zu streng waren, sondern weil er wußte, daß sie nichts bewirken würden. Schließlich entschied er sich für die Wahrheit. Nichts war härter als die Wahrheit, und bei nichts anderem war die Wahrscheinlichkeit so groß, daß es ihm gelang, zu ihnen durchzudringen.
Berdine, Raina, Ulic und Egan warteten in einer Reihe vor ihm. Stocksteif standen sie da, die Augen auf irgendeinen Punkt hinter seinem Kopf gerichtet, während er an dem Tisch in dem kleinen Zimmer saß, das er als Empfangs- und Arbeitszimmer benutzte.
An der Wand neben dem Tisch hingen kleine Landschaftsbilder mit idyllischen ländlichen Szenen, durch das Fenster aber, durch das die Strahlen der Morgensonne in flachem Winkel fielen, funkelte das massige Antlitz der Burg der Zauberer unheilvoll auf ihn herab.
Er war erst seit einer Stunde wieder in Aydindril – lange genug, um in Erfahrung zu bringen, was seit seinem Aufbruch am vergangenen Abend vorgefallen war. Seine vier Bewacher waren seit vor Einbruch der Dämmerung zurück. Als Raina und Egan am Abend zuvor ins Lager hereinspaziert waren, hatte er ihnen den Befehl erteilt, nach Aydindril zurückzukehren. Sie hatten geglaubt, er würde sie nicht mitten in der Nacht zurückschicken. Darin hatten sie sich getäuscht. So unverschämt sie sonst auch waren, der Blick in seinen Augen hatte dafür gesorgt, daß keiner der vier es wagte, sich zu widersetzen.