Auch Richard war viel früher als geplant zurückgekehrt. Er hatte den Soldaten die Löscheichen gezeigt, hatte ihnen erklärt, was sie davon sammeln sollten, und war dann, anstatt die Arbeiten zu beaufsichtigen, noch vor Sonnenaufgang wieder nach Aydindril aufgebrochen. Nach dem, was er in jener Nacht gesehen hatte, war er zum Schlafen zu nervös gewesen und hatte so schnell wie möglich wieder in Aydindril sein wollen.
Während er mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte, beobachtete Richard, wie seine Bewacher schwitzten. Berdine und Raina trugen ihre braune Lederkleidung. Ihre langen, geflochtenen Zöpfe waren durch den harten Ritt in Unordnung geraten.
Die beiden gewaltigen, blondschöpfigen Soldaten, Ulic und Egan, trugen dunkle Lederuniformen.
Die dicken Lederharnische waren so geformt, daß sie wie eine zweite Haut über den deutlichen Konturen ihrer Muskeln lagen. Mitten auf der Brust, in das Leder eingekerbt, sah man den verschnörkelten Buchstabe ›R‹, der für das Haus Rahl stand, und darunter zwei gekreuzte Schwerter. Um die Arme, gleich über den Ellenbogen, trugen sie goldene Reifen, auf denen rasiermesserscharfe Dorne blinkten – Waffen für den Nahkampf.
Kein D'Haraner außer Lord Rahls persönlichen Leibwächtern trug solche Waffen. Es waren die seltensten, höchsten Ehrenzeichen, die sie sich, er wußte nicht wie, verdient hatten.
Richard hatte die Herrschaft über ein Volk angetreten, das er nicht kannte, mit Bräuchen, die ihm größtenteils ein Rätsel waren, und Erwartungen, die er nur teilweise begriff.
Auch diese vier hatten seit ihrer Rückkehr herausgefunden, was am Abend zuvor mit Marlin geschehen war. Sie wußten, weshalb man sie gerufen hatte, aber bislang hatte er noch nicht zu ihnen gesprochen. Er versuchte erst seine Wut in den Griff zu bekommen.
»Lord Rahl?«
»Ja, Raina?«
»Seid Ihr erzürnt über uns? Weil wir Eure Befehle nicht befolgt haben und mit der Nachricht der Mutter Konfessor zu Euch rausgekommen sind?«
Die Nachricht war ein Vorwand gewesen, und das wußten sie ebensogut wie er.
Klick, klick, klick machte sein Daumennagel. »Das wäre alles. Ihr könnt gehen. Alle miteinander.«
Ihre Haltung entspannte sich, doch niemand machte Anstalten zu gehen.
»Gehen?« fragte Raina. »Werdet Ihr uns nicht bestrafen?« Ein spöttisches Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit. »Vielleicht eine Woche lang die Ställe ausfegen oder so etwas?«
»Nein, Raina. Ihr werdet nicht bestraft. Ihr dürft gehen.«
Die beiden Mord-Sith schmunzelten. Berdine beugte sich zu Raina hinüber und flüsterte ihr etwas zu, laut genug, daß er es hören konnte.
»Er hat erkannt, daß wir am besten wissen, wie man ihn beschützt.«
Alle zusammen traten sie zur Tür.
»Bevor Ihr geht«, sagte Richard und kam gemächlich um den Tisch herum, »möchte ich, daß Ihr eins wißt.«
»Und das wäre?« fragte Berdine.
Richard ging an ihnen vorbei und blieb dabei lange genug stehen, um allen in die Augen zu blicken.
»Daß ich enttäuscht von Euch bin.«
Raina verzog das Gesicht. »Ihr seid von uns enttäuscht? Ihr werdet uns nicht anschreien oder bestrafen, Ihr seid einfach nur enttäuscht?«
»So ist es. Ihr habt mich enttäuscht. Ich dachte, ich könnte Euch vertrauen. Dem ist nicht so.« Richard wandte sich ab. »Wegtreten!«
Berdine räusperte sich. »Lord Rahl, Ulic und ich haben Euch auf Euren Befehl hin begleitet.«
»Tatsächlich? Hätte ich also Euch anstelle von Raina hiergelassen, um Kahlan zu beschützen, dann hättet Ihr meinen Befehl befolgt und wärt hiergeblieben?« Sie antwortete nicht. »Ich habe auf Euch alle gezählt, und Ihr habt mich zum Narren gemacht, weil ich Euch vertraut habe.« Er ballte die Hände zu Fäusten, um nicht loszubrüllen. »Ich hätte mich persönlich um Kahlans Schutz gekümmert, wenn ich gewußt hätte, daß ich mich nicht auf Euch verlassen kann.«
Richard stützte sich mit einem Arm an der Fensterscheibe ab und starrte hinaus in den kalten Frühlingsmorgen. Die vier hinter ihm traten verlegen von einem Fuß auf den anderen.
»Lord Rahl«, wagte sich Raina schließlich vor, »für Euch würden wir unser Leben hergeben.«
Richard drehte sich zu ihnen um. »Und dabei Kahlan sterben lassen!« Er bemühte sich, seinen Ton zu mäßigen. »Ihr könnt Euer Leben opfern, soviel Ihr wollt. Spielt Eure Spielchen, ganz wie es Euch beliebt. Tut so, als tätet Ihr etwas Wichtiges. Spielt, Ihr seid meine Leibwächter. Nur kommt mir nicht in die Quere, und auch nicht den Leuten, die mir bei der schwierigen Aufgabe helfen, der Imperialen Ordnung Einhalt zu gebieten.«
Er deutete mit einer knappen Handbewegung auf die Tür. »Wegtreten.«
Berdine und Raina sahen sich an. »Wir werden draußen auf dem Gang sein, falls Ihr uns braucht, Lord Rahl.«
Richard bedachte sie mit einem solch kalten Blick, daß ihnen die Farbe aus dem Gesicht wich. »Ich brauche Euch nicht mehr. Ich kann keine Menschen gebrauchen, denen ich nicht vertrauen kann.«
Berdine mußte schlucken. »Aber –«
»Aber was?«
Sie schluckte erneut. »Was ist mit Kolos Tagebuch? Wollt Ihr nicht, daß ich Euch bei der Übersetzung helfe?«
»Das schaffe ich schon. Sonst noch was?«
Sie schüttelten allesamt den Kopf.
Nacheinander verließen sie das Zimmer. Raina, am Ende der Reihe, zögerte und drehte sich noch einmal um. Ihre dunklen Augen hielten sich am Boden fest.
»Lord Rahl, werdet Ihr uns später mit hinausnehmen, um die Backenhörnchen zu füttern?«
»Ich habe zu tun. Sie werden auch ohne uns wunderbar zurechtkommen.«
»Aber … was ist mit Reggie?«
»Mit wem?«
»Reggie. Das ist der, dem das Stückchen am Ende des Schwanzes fehlt. Er … er … hat in meiner Hand gesessen. Er wird nach uns suchen.«
Richard betrachtete sie eine von Schweigen erfüllte Ewigkeit lang. Er schwankte hin und her zwischen dem Wunsch, sie in den Arm zu nehmen oder sie anzuschreien. Mit der Umarmung hatte er es jedenfalls schon versucht, und das hätte Kahlan beinahe das Leben gekostet.
»Vielleicht ein andermal. Wegtreten.«
Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. »Jawohl, Lord Rahl.«
Raina zog leise die Tür hinter sich zu. Richard harkte sich die Haare nach hinten und ließ sich in seinen Sessel fallen. Mit einem Finger drehte er Kolos Tagebuch langsam auf dem Tisch und biß dabei die Zähne aufeinander. Kahlan hätte sterben können, während er unterwegs war und nach irgendwelchen Bäumen gesucht hatte. Kahlan hätte sterben können, während die Menschen, von denen er glaubte, daß sie sie beschützten, ihre eigenen Pläne verfolgten.
Ihm schauderte bei der Vorstellung, was die zusätzliche Magie, der zusätzliche Zorn seines Schwertes anrichten würde, wenn er es in diesem Augenblick blankzöge. Er konnte sich nicht erinnern, jemals ohne das Schwert in der Hand so wütend gewesen zu sein. Er konnte sich den Zorn der Magie des Schwertes zusätzlich zu seinem eigenen nicht vorstellen.
Die Worte aus der Prophezeiung auf der Felswand in der Grube gingen ihm in ihrer gespenstischen höhnischen Endgültigkeit immer wieder durch den Kopf.
Ein leises Klopfen ließ die hundertste geflüsterte Wiederholung der Prophezeiung in seinem Kopf verstummen.
Es klopfte. Er wußte, wer es war.
»Kommt herein, Cara.«
Die hochgewachsene, blonde Mord-Sith schlüpfte durch die Tür und drückte sie mit dem Rücken zu. Sie hielt den Kopf gesenkt und sah so elend aus, wie er sie noch nie gesehen hatte.
»Kann ich Euch sprechen, Lord Rahl?«
»Warum tragt Ihr Euer rotes Leder?«
Sie schluckte, bevor sie antwortete. »Das ist eine … Mord-Sith-Angelegenheit.«
Er fragte nicht nach einer Erklärung. Im Grunde war es ihm egal. Sie war es, auf die er gewartet hatte. Sie war es, um die sein ganzer Zorn kreiste.
»Verstehe. Was wollt Ihr?«
Cara näherte sich dem Tisch und stand mit hängenden Schultern da. Um den Kopf trug sie eine Bandage. Man hatte ihm jedoch berichtet, die Verletzung sei nicht ernst. An den roten Rändern um ihre Augen war deutlich zu erkennen, daß sie in der letzten Nacht nicht geschlafen hatte. »Wie geht es der Mutter Konfessor heute morgen?«