»Was haltet Ihr beide von Drefan?«
»Er ist Euer Bruder, Lord Rahl«, antwortete Raina. »Die Ähnlichkeit ist nicht zu übersehen.«
»Ich weiß, daß die Ähnlichkeit nicht zu übersehen ist. Ich wollte wissen, was Ihr von ihm haltet.«
»Wir kennen ihn nicht, Lord Rahl«, äußerte sich Raina.
»Ich auch nicht. Hört zu, ich bin Euch nicht böse, wenn Ihr mir erzählt, daß Ihr ihn nicht mögt. Um die Wahrheit zu sagen, würde ich einfach gerne wissen, was Ihr über ihn denkt. Also, Cara? Was haltet Ihr von ihm?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich habe nie einen von Euch beiden geküßt, aber nach dem, was ich gesehen habe, würde ich lieber Euch küssen.«
Richard stemmte die Hände auf die Hüften. »Was soll das heißen?«
»Ich war verletzt, gestern, und er hat mir geholfen. Trotzdem gefällt mir nicht, daß Meister Drefan ausgerechnet jetzt gekommen ist, zur gleichen Zeit wie Marlin und Nadine.«
Richard seufzte. »Genau das denke ich auch. Ständig bitte ich die Menschen, mich nicht danach zu beurteilen, was mein Vater war, und nun muß ich feststellen, daß ich dasselbe bei Drefan tue. Ich würde ihm wirklich gern vertrauen. Bitte, Ihr beide, solltet Ihr irgendeinen Grund zur Sorge haben, dann kommt ohne Zögern zu mir und erzählt ihn mir.«
»Na ja«, sagte Cara, »ich mag seine Hände nicht.«
»Wie meint Ihr das?«
»Er hat Hände wie Darken Rahl. Ich habe gesehen, wie er damit bereits Frauen betätschelt, die um ihn herumscharwenzeln. Das hat Darken Rahl auch getan.«
Richard warf die Hände in die Höhe. »Wann hatte er denn dafür Zeit? Er war den größten Teil des Tages mit mir zusammen.«
»Er nahm sich die Zeit, als Ihr Euch mit Soldaten unterhieltet und als Ihr unterwegs wart, um nach den Männern bei Nadine zu sehen. Lange hat er nicht dafür gebraucht. Die Frauen kamen zu ihm. Ich habe noch nie so viele Frauen gesehen, die einem Mann schöne Augen machen. Ihr müßt zugeben, er ist recht ansehnlich.«
Richard wußte nicht, was so besonders toll an seinem Aussehen war. »Waren Frauen dabei, die es nicht freiwillig über sich ergehen ließen?«
Sie zögerte lange mit der Antwort. »Nein, Lord Rahl.«
»Nun, ich habe auch schon andere Männer gesehen, die sich so aufgeführt haben. Ein paar Freunde von mir waren auch darunter. Sie mögen Frauen, und Frauen mögen sie. Solange die Frauen es freiwillig tun, wüßte ich nicht, was mich das angeht. Andere Dinge bereiten mir mehr Sorgen.«
»Was zum Beispiel?«
»Wenn ich das nur wüßte.«
»Solltet Ihr herausfinden, daß er ganz unschuldig hier ist und nichts als helfen will, wie er behauptet, dann könnt Ihr stolz auf ihn sein, Lord Rahl. Euer Bruder ist ein bedeutender Mann.«
»Ist er das? Wie bedeutend ist er?«
»Euer Bruder ist der Führer seiner Sekte von Heilern.«
»Tatsächlich? Davon hat er nichts erwähnt.«
»Er wollte sich zweifellos nicht damit rühmen. Bescheidenheit gegenüber Lord Rahl ist bei den D'Haranern ganz normal und einer der Grundsätze dieser alter Sekte von Heilern.«
»Kann sein. Er ist also der Anführer dieser Heiler?«
»Ja«, sagte Cara. »Er ist der Hohepriester der Raug'Moss.«
»Der was?« fragte Richard leise. »Wie habt Ihr sie genannt?«
»Die Raug'Moss, Lord Rahl.«
»Wo steckt Berdine?«
»Vermutlich in ihrem Bett.«
Richard lief los und rief ihnen unterwegs Befehle zu. »Cara, Ihr stellt für die Nacht Posten um Kahlans Gemächer auf. Raina, Ihr geht und weckt Berdine und bittet sie, in mein Arbeitszimmer zu kommen.«
»Jetzt, Lord Rahl?« wollte Raina wissen. »So spät noch?«
»Ja. Bitte.«
Zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte Richard hinauf in sein Arbeitszimmer, wo er das Tagebuch, Kolos Tagebuch, geschrieben auf Hoch-D'Haran, aufbewahrte.
Auf Hoch-D'Haran bedeutete Raug'Moss ›Göttlicher Wind‹.
Die beiden Warnungen, die Shota Nadine für Richard mitgegeben hatte, ›der Wind jagt ihn‹ und die Worte aus der Prophezeiung unten in der Grube, ›er muß das Mittel im Wind suchen‹, gingen ihm immer wieder durch den Kopf.
19
»Diesmal«, warnte Ann, »überläßt du das Reden besser mir. Verstanden?«
Ihre Brauen zogen sich so dicht zusammen, daß Zedd glaubte, sie würden sich berühren. Sie beugte sich weit vor, und er konnte noch den Geruch von Wurst in ihrem Atem riechen. Mit dem Fingernagel tippte sie an seinen Halsring – eine zusätzliche Warnung, wenn auch eine ohne Worte.
Zedd setzte eine Unschuldsmiene auf. »Wenn es dir Freude macht, bitte, aber meine Geschichten haben stets dein Wohlergehen und unser gemeinsames Ziel zum Zweck.«
»Oh, gewiß. Und dein gescheiter Witz ist auch stets ein Genuß.«
Zedd fand ihr aufgesetztes Lächeln etwas übertrieben, das ironische Lob hätte vollauf genügt. In diesen Dingen gab es gewisse Verhaltensweisen, die die Höflichkeit gebot. Diese Frau mußte wirklich noch lernen, wo die Grenze lag.
Zedd richtete den Blick wieder auf das, was jenseits von ihr lag, auf das anstehende Problem. Er ließ ein kritisches Auge über die schwach beleuchtete Tür des Gasthauses wandern. Es stand auf der anderen Straßenseite am Ende eines schmalen Plankenwegs. Über der Gasse zwischen zwei Lagerhäusern hing ein kleines Schild: »Gasthaus zum Hofnarren«.
Zedd kannte den Namen der großen Stadt nicht, die sie im Dunkeln erreicht hatten, trotzdem wußte er, daß er sie lieber links liegengelassen hätte. Er hatte in der Stadt mehrere Gasthäuser gesehen, und für dieses hätte er sich nicht entschieden, hätte er die Wahl gehabt.
Das Gasthaus zum Hofnarren sah aus, als hätte man sich erst im nachhinein dazu durchgerungen, ein Hinterhaus als Herberge zu nutzen; entweder wollten die Besitzer es vor den suchenden Augen ehrlicher Menschen verbergen oder aber den kritischen Blicken der Behörden entziehen. Nach den Gästen zu urteilen, die Zedd bereits gesehen hatte, neigte er eher zur zweiten Vermutung. Die meisten Männer sahen aus wie Söldner oder Straßenräuber.
»Das gefällt mir nicht«, murmelte er wie zu sich selbst.
»Dir gefällt auch gar nichts«, fauchte Ann. »Du bist der am schlechtesten gelaunte Mensch, der mir je untergekommen ist.«
Zedd zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Warum sagst du so etwas? Gewöhnlich gelte ich als ein äußerst angenehmer Reisegefährte. Ist noch etwas von der Wurst übrig?«
Ann verdrehte die Augen. »Nein. Was paßt dir diesmal nicht?«
Der Zauberer beobachtete, wie ein Mann sich nach beiden Seiten umsah, bevor er sich zur Tür hinten in der dunklen Gasse aufmachte. »Warum sollte Nathan dort absteigen?«
Ann blickte über die Schulter zur anderen Seite der menschenleeren Straße, wo überfrorene Schneewehen von Wagenspuren durchzogen waren. Umständlich steckte sie eine verirrte Strähne ihres ergrauenden Haars in den lockeren Knoten an ihrem Hinterkopf.
»Um eine warme Mahlzeit und etwas Schlaf zu bekommen.« Sie drehte sich wieder zu Zedd um und sah ihn finster an. »Das heißt, falls er überhaupt dort ist.«
»Ich habe dir doch gezeigt, wie man den magischen Faden spürt, mit dem ich ihm die Spürwolke angehängt habe. Du hast ihn doch gespürt, und Nathan auch.«
»Stimmt schon«, gab Ann zu. »Aber jetzt, wo wir ihn fassen werden und wissen, daß er da drinnen ist, gefällt es dir plötzlich nicht.«
»Ganz recht«, erwiderte er kühl. »Es gefällt mir nicht.«
Der finstere Ausdruck auf Anns Gesicht verlor an Ungestüm, und sie wurde ernst. »Was macht dir Sorgen?«
»Sieh dir das Schild an. Hinter dem Namen.«
Ein Paar Frauenbeine ragte in der Form eines V nach oben.
Sie blickte ihn an, als sei er nicht recht bei Verstand. »Zedd, der Mann war fast eintausend Jahre im Palast der Propheten eingesperrt.«
»Da hast du es: Er war eingesperrt.« Zedd tippte gegen den Rada'Han genannten Ring, der um seinen Hals lag, jenen Ring, den sie ihm angelegt hatte, um ihn einzufangen und zu zwingen, ihr zu gehorchen. »Nathan wird keine große Lust verspüren, sich wieder in einen Halsring einschließen zu lassen. Wahrscheinlich waren Jahrhunderte der Planung sowie die richtige Wendung der Ereignisse notwendig, damit er sich von seinem befreien und fliehen konnte. Ich möchte nicht wissen, wie der Mann mit Hilfe von Prophezeiungen Geschehnisse beeinflußt oder unmittelbar verändert hat, um jene Wendung des Schicksals herbeizuführen, die ihm Gelegenheit gab, seinen Halsring loszuwerden.