Und jetzt soll ich glauben, daß er ein solches Haus aufsucht, nur um mit einer Frau zusammenzusein? Wo er doch wissen muß, daß wir ihm auf den Fersen sind?«
Ann starrte ihn sprachlos ungläubig an. »Soll das heißen, Zedd, Nathan könnte deiner Ansicht nach Geschehnisse – Prophezeiungen – beeinflußt haben, um sich seines Rada'Hans zu entledigen?«
Zedd sah hinüber auf die andere Straßenseite und schüttelte den Kopf. »Ich sage nur, daß es mir nicht gefällt.«
»Wahrscheinlich war er scharf auf das, was da drinnen geboten wird, und hat vollkommen vergessen, sich wegen mir zu sorgen. Er sehnte sich einfach nach ein wenig weiblicher Gesellschaft und hat nicht an die Gefahr gedacht, von mir erwischt zu werden.«
»Du kennst Nathan seit über neun Jahrhunderten. Ich erst seit kurzem.« Er beugte sich näher zu ihr und zog eine Augenbraue hoch. »Aber so blöd bin nicht einmal ich. Nathan ist alles andere als dumm. Er ist ein Zauberer von bemerkenswerten Fähigkeiten.
Wenn du ihn unterschätzt, begehst du einen schwerwiegenden Fehler.«
Sie musterte einen Augenblick lang sein Gesicht. »Du hast recht. Vielleicht ist es eine Falle. Nathan würde mich nicht töten, um zu fliehen, aber davon abgesehen … Vielleicht hast du recht.«
Zedd knurrte empört.
»Zedd«, sagte Ann nach langem, verlegenem Schweigen, »diese Sache mit Nathan ist wichtig. Wir müssen ihn fassen. Früher hat er mir immer geholfen, wenn wir in den Prophezeiungen auf Bedrohungen gestoßen sind, und er ist nach wie vor ein Prophet. Propheten sind jedoch gefährlich. Nicht, weil sie uns absichtlich Schwierigkeiten bereiten wollen, sondern wegen der Natur der Prophezeiungen.«
»Mich brauchst du davon nicht zu überzeugen. Ich kenne die Gefahren der Prophezeiungen sehr gut.«
»Im Palast hielten wir Propheten stets unter Verschluß, denn wenn sie frei herumliefen, bestand immer die Möglichkeit, daß sie Unheil anrichten. Ein Prophet, der auf Ärger aus war, konnte ihn haben. Aber auch ein Prophet, der nur seinen Frieden wollte, stellte eine Gefahr dar – nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst. Die Menschen rächen sich allzuoft am Überbringer einer Wahrheit, so als sei das Wissen darum die Ursache des Unglücks. Prophezeiungen sind nicht dazu bestimmt, von Ohren gehört zu werden, die nicht darauf vorbereitet sind, von Menschen, die von Magie – und erst recht von Prophezeiungen – keine Ahnung haben.
Einmal erlaubten wir einer Frau, Nathan zu besuchen, wie wir dies gelegentlich auf seinen Wunsch hin taten.«
Zedd sah sie stirnrunzelnd an. »Ihr habt Prostituierte zu ihm gelassen?«
Ann zuckte verlegen die Achseln. »Wir wußten, wie einsam er war. Es war nicht die wünschenswerteste Lösung, aber dennoch verschafften wir ihm von Zeit zu Zeit Gesellschaft. Wir waren nicht herzlos.«
»Wie großmütig von euch.«
Ann wich seinem Blick aus. »Als wir ihn im Palast einsperrten, taten wir unsere Pflicht, trotzdem hatten wir Mitleid mit ihm. Es war nicht seine Entscheidung, mit der Gabe der Prophezeiung geboren zu werden.
Wir warnten ihn stets davor, den Frauen Prophezeiungen zu verraten, einmal tat er es hingegen doch. Die Frau floh schreiend aus dem Palast. Wir erfuhren nie, wie sie hatte entkommen können, ohne daß wir es verhindern konnten.
Sie verbreitete die Prophezeiung, bevor wir sie ausfindig machten. Dadurch wurde ein Bürgerkrieg ausgelöst. Tausende fanden den Tod. Frauen und Kinder starben.
Manchmal wirkt Nathan verrückt, so als sei er nicht bei Verstand. Zu anderen Zeiten erscheint er mir wie der am meisten aus dem Gleichgewicht geratene Mensch, dem ich je begegnet bin. Nathan beurteilt die Welt nicht nur danach, was er um sich herum sieht, sondern er sieht sie auch durch den Filter der Prophezeiung, die ihn im Geist heimsucht.
Als ich ihn darauf ansprach, gab er vor, sich weder an die Prophezeiung zu erinnern, noch der jungen Frau etwas erzählt zu haben. Erst viel später, nachdem es mir gelungen war, mehrere Prophezeiungen miteinander zu verketten, fand ich heraus, daß eines der Kinder, die gestorben waren, ein Junge war, der in einer Prophezeiung als derjenige bezeichnet wurde, der als Erwachsener mittels Folter und Mord herrschen würde. Unzählige Menschen, Zehntausende, wären gestorben, hätte dieser Junge überlebt und wäre er zum Mann herangewachsen. Nathan hatte diesen gefährlichen Ast der Prophezeiung im Keim erstickt. Ich habe keine Ahnung, wieviel dieser Mann weiß und für sich behält.
Ein Prophet kann ebenso leicht großes Unheil anrichten. Ein Prophet, der nach Macht strebt, hat gute Chancen, die Welt zu beherrschen.«
Zedd beobachtete noch immer die Tür. »Also sperrt ihr sie ein.«
»Ja.«
Zedd zupfte an einem Faden seines kastanienbraunen Gewandes. Er betrachtete im schwachen Licht ihre geduckte Gestalt. »Ann, ich bin der Oberste Zauberer. Wenn ich dafür kein Verständnis hätte, würde ich dir nicht helfen.«
»Danke«, sagte sie leise.
Zedd wog ihre Möglichkeiten ab. Viele waren es nicht. »Wenn ich dich recht verstehe, weißt du nicht sicher, ob Nathan geistig gesund ist. Aber wenn, dann ist er womöglich gefährlich.«
»Vermutlich, ja. Andererseits half Nathan mir oft, Menschen Leid zu ersparen. Vor Hunderten von Jahren warnte er mich vor Darken Rahl und erzählte mir von einer Prophezeiung, der zufolge ein Kriegszauberer – Richard – geboren werden würde. Gemeinsam sorgten wir dafür, daß Richard ungestört aufwachsen konnte, damit du Zeit hättest, deinen Enkelsohn zu einem Mann heranzuziehen, der seine Fähigkeiten zum Wohle der Menschen einsetzt.«
»Dafür danke ich Dir«, sagte Zedd. »Aber du hast mir diesen Ring um den Hals gelegt, und das gefällt mir ganz und gar nicht.«
»Das verstehe ich. Das habe ich weder gern getan, noch bin ich stolz darauf. Manchmal verlangen verzweifelte Umstände nach verzweifelten Taten. Die Guten Seelen werden das letzte Wort über meine Taten sprechen.
Je schneller wir Nathan finden, desto eher nehme ich dir den Rada'Han ab. Natürlich möchte ich dich nicht über diesen Ring wie einen Gefangenen halten. Aber in Anbetracht der fürchterlichen Folgen, wenn es mir nicht gelingt, Nathan in die Finger zu bekommen, tue ich, was mir mein Gefühl vorschreibt.«
Zedd deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Und das gefällt mir auch nicht.«
Ann sah gar nicht hin. Sie wußte, worauf er zeigte. »Was hat ein roter Mond mit Nathan zu tun?«
»Ich behaupte nicht, daß er etwas mit Nathan zu tun hat. Er gefällt mir einfach nicht.«
Unter der dichten Wolkendecke waren sie während der vergangenen Tage nachts nur mühsam vorangekommen, zum einen wegen der Dunkelheit, zum anderen auch, weil die Spürwolke schwer zu erkennen war, die Zedd Nathan angehängt hatte. Zum Glück waren sie so nahe gewesen, daß sie die magische Verbindung spürten, ohne die Wolke sehen zu müssen. Sie diente ohnehin lediglich dazu, den Verfolger so dicht heranzuführen, daß er diese Verbindung fühlte.
Zedd wußte, daß sie sich Nathan sehr weit genähert hatten – bis auf wenige hundert Fuß. So dicht am Ziel, verwirrte die Magie der Verbindung Zedds Sinne, behinderte seine magische Urteilskraft und seine Möglichkeiten, über seine Gabe Zugang zu seinen vertrauten Fähigkeiten zu finden. So nah am Ziel benahm sich die Magie wie ein Bluthund, der Witterung aufgenommen hatte und so sehr auf das Objekt seiner Suche fixiert war, daß er außer der Fährte nichts mehr sah. Es war eine unangenehme Form der Blindheit und ein weiterer Grund für dieses unbehagliche Gefühl.
Er könnte die Verbindung unterbrechen, aber das wäre riskant, solange sie Nathan noch nicht tatsächlich gefunden hatten. Einmal unterbrochen, ließe sie sich nicht ohne Körperkontakt wiederherstellen.