Die heftigen Schneefälle der letzten paar Tage hatten sie aufgehalten und die Reise kalt und beschwerlich gemacht. Vorhin war es wenigstens aufgeklart, allerdings blies noch immer ein bitterkalter, schneidender Wind. Sie hatten sich auf den Mondaufgang gefreut, auf das Licht, während sie Nathan immer näher kamen.
Stumm vor Staunen, hatten die beiden mitangesehen, wie der Mond am Horizont aufgestiegen war. Er war rot gewesen.
Zuerst dachten sie, es läge vielleicht am Dunst, doch als der Mond hoch über ihren Köpfen stand, wußte Zedd, daß kein harmloses atmosphärisches Ereignis dafür verantwortlich war. Schlimmer noch, wegen der Wolkendecke während der letzten Tage wußte er nicht, wann der Mond sich zum erstenmal rot verfärbt hatte.
»Zedd«, brach Ann schließlich das beklemmende Schweigen, »hast du eine Ahnung, was das bedeutet?«
Der Zauberer sah zur Seite und tat, als lasse er den Blick prüfend über die Schatten wandern. »Du vielleicht? Du bist viel älter als ich. Du mußt doch über solche Zeichen etwas wissen.«
Er hörte, wie sie nervös an ihrem wollenen Gewand herumzupfte. »Du bist ein Zauberer der Ersten Ordnung. Ich unterwerfe mich in diesen Dingen deinem sachkundigen Urteil.«
»Plötzlich findest du mein Urteil interessant?«
»Zedd, wir wollen nicht darüber streiten. Ein solches Zeichen ist meines Wissens beispiellos, trotzdem erinnere ich mich an einen Hinweis auf einen roten Mond in einem alten Text, einem Text aus der Zeit des Großen Krieges. Im Buch stand nicht, was es bedeutet, nur daß das Phänomen damals große Aufregung verursachte.«
Zedd kauerte sich in den Schatten des Gebäudes, hinter dem sie sich versteckten. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Schindeln und winkte Ann zu sich. Sie setzte sich neben ihn.
»In der Burg der Zauberer gibt es Dutzende von Bibliotheken, riesige Bibliotheken, von denen die meisten wenigstens so groß sind wie die Gewölbekeller mit den Büchern im Palast der Propheten, viele sogar erheblich größer. Dort stehen auch zahlreiche Bücher mit Prophezeiungen.«
Es gab Bücher mit Prophezeiungen in der Burg der Zauberer, die als so gefährlich galten, daß sie hinter mächtigen Schilden aufbewahrt wurden, die den privaten Bereich des Obersten Zauberers sicherten. Nicht einmal den Zauberern von früher, die in der Burg lebten, als Zedd noch jünger war, war es gestattet, diese Prophezeiungen zu lesen. Zedd hatte zwar Zugang zu ihnen, nachdem er Oberster Zauberer geworden war, trotzdem hatte er längst nicht alle gelesen. Die, die er gelesen hatte, hatten ihm schlaflose Nächte und Schweißausbrüche bereitet.
»Gütige Seelen«, setzte er hinzu, »in der Burg der Zauberer gibt es so viele Bücher, daß ich nicht einmal Zeit hatte, sämtliche Titel zu lesen. Früher gab es für jede Bibliothek ganze Kuratorienstäbe. Ganz früher, lange vor meiner Zeit, wurden diese Kuratoren zusammengerufen, wenn man eine Antwort suchte. Jeder kannte seine Bücher und konnte sich zu Wort melden, wenn er Quellen zum fraglichen Thema kannte. Auf diese Weise war es verhältnismäßig einfach, die entsprechenden Bücher und Prophezeiungen ausfindig zu machen, die bei dem anstehenden Problem von Nutzen sein konnten.
In meiner frühen Jugend gab es nur noch zwei Zauberer, die als Kuratoren arbeiteten. Zwei Männer konnten nicht einmal annähernd all das Wissen verfügbar machen, das dort aufbewahrt wurde. In diesen Büchern ist ein ungeheures Ausmaß an Informationen enthalten, aber eine bestimmte Stelle zu finden ist eine gewaltige Aufgabe. Man muß sich von der Gabe leiten lassen, wenn man die Suche auch nur ansatzweise eingrenzen will.
Ein bestimmtes Wissen in dieser Bibliothek zu finden ist, als schwimme man mitten im Ozean und brauche etwas zu trinken. Wissen gibt es im Überfluß, und doch kann man verdursten, bevor man es findet. Als ich jung war, zeigte man mir die wichtigeren Bücher über Geschichte, Magie und Prophezeiungen. Ich beschränkte meine Studien weitgehend auf diese Bücher.«
»Was ist mit dem roten Mond?« fragte Ann. »Was stand darüber in den Büchern, die du gelesen hast?«
»Ich kann mich erinnern, nur einmal etwas über einen roten Mond gelesen zu haben. Allerdings handelte es sich nur um eine unklare Randbemerkung. Ich wünschte, ich hätte daran gedacht, mich weiter in das Thema zu vertiefen, aber das tat ich nicht. Es gab andere Dinge in den Büchern, die damals wichtiger waren und meine Aufmerksamkeit verlangten – wirkliche Dinge, keine hypothetischen.«
»Was stand in diesem Buch?«
»Wenn ich mich recht erinnere, und ich will nicht behaupten, daß dem so ist, stand dort etwas über einen Riß zwischen den Welten. Dort stand, sollte es zu einem solchen Riß kommen, wäre das entsprechende Warnzeichen ein roter Mond, drei Nächte lang.«
»Drei Nächte. Nach allem, was wir wissen, können wir bei dem bedeckten Himmel, den wir hatten, die drei Nächte mit rotem Mond bereits hinter uns haben. Was ist, wenn der Himmel ständig bedeckt ist? Man würde die Warnung übersehen.«
Zedd kniff konzentriert die Augen zusammen, als er versuchte, sich zu erinnern, was er gelesen hatte. »Nein … nein, dort stand, der, an den sich die Warnung richtete, würde das Warnzeichen drei Nächte lang sehen – alle drei Nächte, in denen der Mond rot ist.«
»Und was genau ist mit einer solchen Warnung gemeint? Was für einen Riß könnte es zwischen den Welten geben?«
»Wenn ich das nur wüßte.« Zedd ließ seinen weißen, welligen Haarschopf nach hinten gegen die Wand sinken. »Als die Kästchen der Ordnung von Darken Rahl geöffnet wurden, der Stein der Tränen aus einer anderen Welt in diese gelangte und der Hüter der Unterwelt kurz davor stand, durch den Riß in unsere Welt zu gelangen, war nie ein roter Mond zu sehen.«
»Dann bedeutet der rote Mond vielleicht gar nicht, daß ein Riß entstanden ist. Vielleicht erinnerst du dich falsch.«
»Vielleicht. Am lebhaftesten sind mir meine Gedanken von damals in Erinnerung geblieben. Ich habe mir einen roten Mond vorgestellt und mir gesagt, ein solches Bild müßte ich mir einprägen, für den Fall, daß ich es je in Wirklichkeit sähe. Ich müßte mir genau merken, daß es große Schwierigkeiten bedeutet, und sofort nach der Bedeutung des Zeichens suchen.«
Ann berührte seinen Arm, eine mitfühlende Geste, wie sie sie zuvor noch nie gemacht hatte. »Zedd, wir haben Nathan so gut wie gefunden. Heute abend werden wir ihn fassen. Wenn es soweit ist, werde ich dir den Rada'Han abnehmen, damit du schnell nach Aydindril zurückfahren und dich um diese Angelegenheit kümmern kannst. Um es genau zu sagen, sobald wir Nathan haben, brechen wir alle zusammen auf. Nathan wird verstehen, wie ernst die Lage ist, und ebenfalls helfen. Wir reisen mit dir zusammen nach Aydindril und helfen dir.«
Es paßte Zedd zwar nicht, daß diese Frau darauf bestanden hatte, er solle sie bei Nathans Gefangennahme begleiten. Inzwischen hatte er jedoch begriffen, welche Angst sie davor hatte, was Nathan anstellen könnte, solange er sich auf freiem Fuß befand. Sie war auf seine Hilfe angewiesen. Manchmal fiel es ihm schwer, seine Entrüstung aufrechtzuerhalten. Er wußte, wie verzweifelt sie zu verhindern versuchte, daß die Prophezeiungen zusammen mit Nathan in die Welt gelangten.
Zedd war klar, welche Gefahren drohten, wenn Menschen mit nackten Prophezeiungen konfrontiert wurden. Seit er ein Junge war, hatte man ihm immer wieder Vorträge darüber gehalten, wie gefährlich Prophezeiungen selbst für einen Zauberer waren.
»Klingt nach einem guten Handel. Ich helfe dir, Nathan zurückzubekommen, und ihr beide helft mir, die Bedeutung des roten Mondes herauszufinden.«
»Also abgemacht – wir arbeiten freiwillig zusammen. Ich muß zugeben, daß mir diese Entwicklung sehr willkommen ist.«
»Tatsächlich?« fragte Zedd. »Warum nimmst du mir dann nicht diesen Halsring ab?«
»Das werde ich tun. Sobald wir Nathan haben.«
»Nathan bedeutet dir mehr, als du eingestehen willst.«
Sie schwieg einen Augenblick. »Das stimmt. Wir haben jahrhundertelang zusammengearbeitet. Er kann der Ärger in Menschengestalt sein, trotzdem hat er eigentlich ein gutes Herz.« Ihre Stimme wurde leiser, als sie den Kopf wegdrehte. Zedd glaubte zu sehen, wie sie sich mit der Hand über die Augen wischte. »Ich mag diesen unverbesserlichen, wundervollen Mann sehr.«