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Stadtbewohner weinten ohne jede Scham, als sie mit ausgestreckten Händen flehend noch um Gnade baten, während sie bereits zum Tod durch das Schwert verurteilt waren. Clarissa sah, wie die blutverschmierte Leiche eines Mannes aus dem Rat der Sieben hinter einem Pferd an einem Seil durch die Straßen geschleift wurde.

Über all dem hörte man die schrillen Schreie von Frauen, deren Kinder, Ehemänner, Brüder und Väter vor ihren Augen niedergemetzelt wurden.

Der heiße Wind wehte das wilde Gemisch aus Gerüchen einer brennenden Stadt heran, Pech und Holz, Öl und Stoff, Haut und Fleisch, doch über all dem lag, in jedem Atemzug, den sie einsog, der Übelkeit erregende Gestank von Blut.

Alles geschah genau so, wie er es vorhergesagt hatte. Clarissa hatte ihn ausgelacht. Jetzt glaubte sie nicht mehr, daß sie irgendwann in ihrem Leben jemals wieder würde lachen können. Als ihr klar wurde, wie kurz diese Zeit sein konnte, hätten ihre Beine fast unter ihr nachgegeben.

Nein. Daran wollte sie nicht denken. Hier war sie sicher. Man würde die Abtei nicht entweihen. Sie hörte, wie die Menschenmenge, die unten im großen Saal Zuflucht suchte, jammerte und vor Entsetzen schrie. Dies war ein geheiligter Ort, gewidmet der Anbetung des Schöpfers und der Guten Seelen. Es käme einer unermeßlichen Gotteslästerung gleich, wenn diese Bestien an einer so heiligen Stätte Blut vergießen würden.

Und doch hatte er ihr genau das vorhergesagt.

Unten, draußen auf den Straßen, war der Widerstand der Armee zerschmettert worden. Noch nie zuvor hatten die Verteidiger Renwolds einem Angreifer gestattet, einen Fuß in die Stadt zu setzen. Es hieß, die Mauern seien so sicher, als verteidige der Schöpfer sie höchstpersönlich. Bereits früher hatten es Feinde versucht und waren stets wieder abgezogen, nachdem sie sich eine blutige Nase geholt hatten. Keiner Horde von Wilden war es je gelungen, eine Bresche in die Stadtmauer zu schlagen. Renwold hatte jedem Angriff standgehalten.

An diesem Tag aber war Renwold gefallen, so wie er es vorhergesagt hatte.

Da sich die Bewohner frech geweigert hatten, die Stadt und ihre Schätze friedlich und kampflos aufzugeben, gewährte man ihnen keine Gnade.

Einige hatten auf Kapitulation gedrängt und argumentiert, der rote Mond während der vergangenen drei Nächte sei ein schlechtes Omen. Doch diese Stimmen waren nur vereinzelt laut geworden. Man hielt die Stadt für uneinnehmbar.

An diesem Tag hatten sich die Guten Seelen und der Schöpfer von den Menschen von Renwold abgewendet. Was ihr Verbrechen war, vermochten sie nicht zu ergründen, aber es mußte gewiß fürchterlich sein, wenn es keine Gnade seitens der Guten Seelen zuließ.

Von ihrem Ausguck auf dem höchsten Punkt der Abtei konnte sie sehen, wie die Bewohner Renwolds in den Straßen, im Marktviertel und in den Innenhöfen zu kleinen Gruppen zusammengetrieben wurden. Sie kannte viele der Menschen, die unter vorgehaltener Waffe unten in den Innenhof getrieben wurden. Die Angreifer sortierten die Männer und diejenigen, die einen Beruf hatten, aus: Schmiede, Bogenmacher, Pfeilmacher, Bäcker, Brauer, Metzger, Müller und Tischler – jeden, für den sich möglicherweise eine Verwendung finden ließ. Diese Männer kettete man aneinander, um sie als Sklaven abzuführen. Die Alten, die kleinen Jungs und die, die scheinbar nicht von Nutzen waren – Hausdiener, Dienstmänner am Hof, Gastwirte, städtische Beamte und Kaufleute – wurden auf der Stelle ermordet, sei es durch einen raschen Schwertschlag seitlich in den Hals, durch einen Speer in die Brust, durch ein Messer in den Unterleib oder durch einen Morgenstern auf den Schädel. Das Gemetzel hatte kein System.

Starren Blicks verfolgte Clarissa, wie ein Angreifer mit einem Knüppel auf den Kopf eines am Boden liegenden Mannes einprügelte, der offenbar nicht sterben wollte. Es erinnerte sie an einen Fischer, der einen Wels am Flußufer erschlägt – ein ekelhaftes, dumpfes klatschendes Geräusch. Der Mann mit dem Knüppel schien sich nicht mehr dabei zu denken als der Fischer. Der Blödmann Gus, der arme Schwachkopf, der für Kaufleute, Ladenbesitzer und Gaststätten Botendienste erledigte und den man für seine Arbeit mit etwas zu essen, einem Bett und dünnem Bier entlohnte, trat ein letztes Mal aus, als sein Schädel mit einem weithin schallenden Krachen nachgab.

Clarissa schlug sich die zitternden Finger vor den Mund, als sie spürte, wie ihr der Mageninhalt hinten im Hals hochzusteigen drohte. Sie schluckte ihn hinunter und schnappte keuchend nach Luft.

Das geschah nicht wirklich, versuchte sie sich einzureden. Sie träumte. Immer wieder wiederholte sie in Gedanken diese Lüge. Dies geschieht nicht wirklich. Dies geschieht nicht wirklich. Dies geschieht nicht wirklich.

Und es geschah doch. Gütiger Schöpfer, es geschah tatsächlich.

Clarissa sah zu, wie die Frauen von den Männern getrennt wurden. Die alten Frauen wurden allesamt umgebracht. Die Frauen, die zu behalten man für wert befand, wurden schreiend und nach ihren Männern rufend, in eine Gruppe gestoßen. Angreifer sortierten sie aus und trennten sie weiter nach Alter und, wie es schien, nach Aussehen.

Lachende Eroberer hielten die Frauen fest, während andere Bestien methodisch von Frau zu Frau gingen, ihre Unterlippe packten und diese mit einem dünnen Dorn durchbohrten. Dann wurde jeder Frau ein Ring durch die Lippe gezogen.

Auch das hatte er ihr vorhergesagt: Die Frauen würden als Sklavinnen gezeichnet werden. Auch darüber hatte sie gelacht. Und warum auch nicht? Er kam ihr ebenso einfältig und dumm vor wie der Unsinn, den der Blödmann Gus jedem erzählte. Lang und breit hatte er sich immer über seine albernen Ideen ausgelassen.

Clarissa kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Offenbar bekamen die verschiedenen Gruppen der Frauen verschiedenfarbige Ringe. Bei einer Gruppe älterer Frauen jeden Körperbaus waren sie kupferfarben. Eine Gruppe jüngerer Frauen wehrte sich unter großem Geschrei gegen die silbernen Ringe, die für sie bestimmt waren. Sie hörten erst auf, sich zu wehren, und fügten sich dann willig, als man ein paar von denen, die am heftigsten Widerstand leisteten, Schwerter in den Leib rammte.

Die kleinste Gruppe mit den jüngsten, hübschesten Frauen befand sich in den Klauen des allergrößten Grauens, denn sie standen inmitten eines Trupps von stämmigen Angreifern. Diese Frauen erhielten goldene Ringe. Das Blut lief ihnen vom Kinn auf ihre prunkvollen Kleider.

Clarissa kannte die meisten dieser Frauen. Es war schwer, sich nicht an die Menschen zu erinnern, die einen regelmäßig demütigten. Selbst Anfang Dreißig und unverheiratet, war Clarissa bei vielen zum Ziel des Spotts geworden, aber diese hatten sie am grausamsten behandelt. Sie warfen ihr im Vorübergehen spöttische Seitenblicke zu, nannten sie untereinander ›alte Jungfer‹ oder ›altes Weib‹, und das gerade laut genug, daß sie es hören konnte.

Clarissa hatte nie geplant, in diesem Alter noch ohne Mann zu sein. Sie hatte immer eine Familie gewollt. Sie war nicht recht sicher, wieso das Leben an ihr vorübergegangen war, ohne ihr die Gelegenheit zu geben, einen Gatten zu finden.

Dabei war sie nicht häßlich, aber sie wußte, daß sie bestenfalls nicht mehr als gewöhnlich war. Ihre Figur war ganz ordentlich, Sie hatte Fleisch auf den Knochen. Ihr Gesicht war weder entstellt noch runzelig oder grotesk. Wann immer sie nachts an einem Fenster vorüberging und ihr Konterfei betrachtete, fand sie nicht, daß ihr eine häßliche Frau entgegenstarrte. Sie wußte, daß dieses Gesicht nicht unbedingt zu Balladen inspirierte, abstoßend war es jedoch nicht.

Da es hingegen mehr verfügbare Frauen als Männer gab, reichte es einfach nicht, ›nicht häßlich‹ zu sein. Die hübschen, jüngeren Frauen verstanden das nicht: Sie hatten Männer im Überfluß, die ihnen den Hof machten. Den älteren Frauen war es durchaus bewußt, und sie waren freundlicher, trotzdem galt sie in ihren Augen als Pechvogel. Außerdem hatten sie Angst, übermäßig freundlich zu sein, um sich nicht mit jenem unheimlichen Makel anzustecken, der eine Heirat verhinderte.