Jetzt wollte sie bestimmt kein Mann mehr: sie war zu alt. Zu alt, wie die Männer sicherlich befürchteten, Söhne zu gebären. Sie war in der Falle der Zeit gefangen, allein und als alte Jungfer. Ihre Arbeit füllte ihre Zeit aus, machte sie aber bestimmt nicht so glücklich wie eine Familie.
So sehr die Sticheleien dieser jungen Frauen schmerzten und so gern sie gesehen hätte, daß sie einmal am eigenen Leib diese Demütigung erfahren würden, das hatte sie ihnen nicht gewünscht.
Lachend zerrissen die Angreifer die Leibchen ihrer eleganten Kleider und musterten die jungen Frauen wie Vieh.
»Gütiger Schöpfer«, betete sie weinend, »bitte laß dies nicht nur deshalb geschehen, weil ich wollte, daß sie die Scham der Demütigung kennenlernen. Das habe ich ihnen nicht gewünscht. Gütiger Schöpfer, ich bitte dich, mir zu verzeihen, daß ich ihnen jemals etwas Schlechtes gewünscht habe. Das wollte ich nicht, ich schwöre es bei meiner Seele.«
Clarissa stockte der Atem. Sie beugte sich aus dem kleinen Fenster, um besser sehen zu können, als sie einen Trupp Angreifer gewahrte, der mit einem Rammbock voranstürmte. Sie verschwanden unter einem Mauervorsprung unter dem Fenster.
Sie spürte, wie das Gebäude von einem dumpfen Schlag widerhallte. Die Menschen im großen Saal schrien. Wieder ein dumpfer Schlag. Dann noch einer, woraufhin sie hörte, wie Holz zersplitterte. Unten brach ein Höllenspektakel los wie in der Unterwelt selbst.
Sie entweihten die Abtei des Schöpfers. Genau wie der Prophet es vorhergesagt hatte.
Clarissa krallte beide Hände über ihrem Herz in ihr Kleid, als sie hörte, wie das Gelächter unten von neuem einsetzte. Unkontrollierbar schüttelte sie sich. Bald würden sie die Stufen heraufkommen und sie finden.
Was würde mit ihr geschehen? Würde sie mit einem Ring durch die Lippe gezeichnet und versklavt werden? Hätte sie den Mut zu kämpfen und getötet zu werden, anstatt sich zu unterwerfen?
Nein. Sie wußte, die Antwort lautete nein. Wenn es hart auf hart käme, würde sie überleben wollen. Sie wollte nicht abgeschlachtet werden wie diese Menschen auf dem Platz unten oder wie der Blödmann Gus. Den Tod fürchtete sie mehr als das Leben.
Ihr stockte der Atem, als die Tür mit einem Knall aufgestoßen wurde.
Der Abt platzte in das kleine Zimmer. »Clarissa!« Er war weder jung noch körperlich fit und vom hastigen Treppensteigen außer Atem. Seine Leibesfülle ließ sich unter seinem mattbraunen Gewand nicht verheimlichen.
Sein rundes Gesicht war so aschfahl wie das einer drei Tage alten Leiche.
»Clarissa! Die Bücher!« keuchte er. »Wir müssen fort. Müssen die Bücher mitnehmen. Nehmt sie und versteckt Euch!«
Sie blinzelte ihn verständnislos an. Es würde Tage dauern, das Zimmer voller Bücher einzupacken, und mehrere Karren wären nötig, sie abzutransportieren. Es gab keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Es gab keinen Ort, wo man hätte hinlaufen können. Wie sollte man durch die nachdrängenden Reihen der Angreifer entkommen können?
Die Anweisung war lächerlich, geboren aus wahnsinniger Angst.
»Abt, wir haben keine Chance zu entkommen.«
Er lief zu ihr und ergriff ihre Hände. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Seine Augen zuckten umher. »Sie werden uns nicht bemerken. Wir tun so, als gingen wir unserer Arbeit nach. Sie werden uns keine Fragen stellen.«
Sie wußte nicht, was sie auf eine derartige Selbsttäuschung antworten sollte. Allerdings kam sie auch gar nicht mehr dazu, es zu versuchen. Drei Männer mit blutbefleckten Uniformen aus Leder und Fell traten durch die Tür. Sie waren so groß und das Zimmer so klein, daß sie nur drei Schritte brauchten, um die Entfernung bis zum Abt zu überbrücken.
Zwei hatten fettiges, lockiges, verfilztes Haar. Der dritte war kahlgeschoren, trug aber wie die beiden anderen einen dichten Bart. Alle hatten einen Goldring im linken Nasenflügel.
Der mit dem glänzenden Schädel packte den Abt bei seinem weißen Haarkranz und riß seinen Kopf nach hinten. Der Abt winselte.
»Beruf? Hast du einen Beruf?«
Der Abt, dessen Kopf so weit nach hinten gebogen war, daß er nur an die Decke starren konnte, breitete flehend die Hände aus.
»Ich bin der Abt. Ein Mann des Gebetes.« Er fuhr sich erneut mit der Zunge über die Lippen und fügte fast schreiend hinzu: »Und die Bücher! Ich kümmere mich um die Bücher!«
»Bücher. Wo sind sie?«
»Die Archive befinden sich im Lesesaal.« Da sein Kopf nach hinten verdreht war, zeigte er blindlings ins Leere. »Clarissa weiß Bescheid. Clarissa kann sie Euch zeigen. Sie arbeitet mit ihnen. Sie kann sie Euch zeigen. Sie kümmert sich um sie.«
»Also kein Beruf?«
»Ich bin ein Mann des Gebetes! Ich werde für Euch zu unserem Schöpfer und den Guten Seelen beten. Ihr werdet sehen. Ich bin ein Mann des Gebetes. Ihr braucht nicht einmal etwas dafür zu spenden. Ich werde für Euch beten. Ohne Spende.«
Der Kerl mit dem rasierten Schädel spannte seine schweißglänzenden Muskeln an, riß den Kopf des Abts noch weiter nach hinten und schlitzte ihm mit einem langen Messer die Kehle auf. Clarissa fühlte, wie ihr warmes Blut ins Gesicht spritzte, als der Abt durch die klaffende Wunde ausatmete.
»Einen Betbruder können wir nicht gebrauchen«, sagte der Angreifer und stieß den Abt zur Seite.
Clarissa riß entsetzt die Augen auf, als sie sah, wie sich das Blut auf dem braunen Gewand des Abts ausbreitete. Sie kannte ihn fast ihr ganzes Leben lang. Er hatte sie vor Jahren aufgenommen und, indem er ihr Arbeit als Schreiberin gegeben hatte, ihren Hungertod verhindert. Er hatte Mitleid mit ihr gehabt, weil sie keinen Mann fand, außerdem verfügte sie über keinerlei Fertigkeit außer Lesen. Lesen konnten nicht viele, Clarissa aber konnte es, und damit verdiente sie ihr Brot.
Daß sie die dicklichen Hände des Abts und seine sabbernden Lippen ertragen mußte, war eine Bürde, die sie auf sich nehmen mußte, wenn sie ihre Arbeit behalten und weiter ihren Lebensunterhalt verdienen wollte. Es war nicht gleich von Anfang an so gewesen, doch als sie allmählich mit ihrer Arbeit vertraut wurde und sie ihrer Fähigkeiten sicher war, begriff sie ganz allmählich, daß sie Dinge hinzunehmen hatte, die ihr nicht gefielen.
Vor langer Zeit hatte sie ihn einmal gebeten, damit aufzuhören. Das hatte nichts bewirkt, und sie hatte ihm gedroht. Er erklärte ihr, man werde sie aus dem Haus weisen, wenn sie derart skandalöse Vorwürfe gegen einen angesehenen Abt erhob. Wie sollte eine auf sich gestellte Frau alleine draußen auf dem Land überleben? hatte er gefragt. Welch ein Schicksal hätte sie dann wohl zu ertragen?
Wahrscheinlich war dies nicht das Schlimmste, was ihr widerfahren konnte. Andere Menschen litten Hunger, und Stolz füllte ihnen nicht den Bauch. Manche Frauen litten unter ihren Ehemännern mehr. Wenigstens schlug der Abt sie nicht.
Sie hatte ihm nie etwas Böses gewollt. Er sollte sie nur in Ruhe lassen. Sie wollte ihm nichts Böses. Er hatte sie aufgenommen, ihr Arbeit und Essen gegeben. Andere hatten nichts als Verachtung für sie übrig.
Der brutale Kerl kam zu ihr und riß sie aus dem Schockzustand, der sie befallen hatte, weil sie die Ermordung des Abtes mitansehen mußte. Er schob das Messer in seinen Gürtel.
Daraufhin packte er ihr Kinn mit seinen schwieligen, blutverschmierten Fingern und drehte ihren Kopf von einer Seite zur anderen. Er kniff sie probeweise in die Hüfte. Sie fühlte, wie ihr Gesicht vor Erniedrigung brannte, weil sie so taxiert wurde.
Er wandte sich an einen der anderen. »Beringe sie.«
Einen Augenblick lang verstand sie nicht. Ihre Knie fingen an zu zittern, als einer der stämmigen Kerle vortrat und ihr bewußt wurde, was gemeint war. Sie hatte Angst loszuschreien. Sie wußte, was sie ihr antun würden, wenn sie sich wehrte. Sie wollte nicht, daß man ihr die Kehle aufschlitzte wie dem Abt oder ihr den Schädel einschlug wie dem armen Blödmann Gus. Gütiger Schöpfer, sie wollte nicht sterben.
»Welche Sorte, Kommandant Mallack?«