Der kahlköpfige Mann blickte ihr in die Augen. »Den silbernen.«
Silber. Nicht Kupfer. Silber.
Ein irres Lachen hallte ganz hinten durch ihren Kopf, als der Mann ihre Unterlippe zwischen Daumen und einem Knöchel packte.
Diese Männer, die darin erfahren waren, Fleisch zu beurteilen, hatten ihr gerade einen höheren Wert bescheinigt als ihre eigenen Leute. Und wenn auch nur als Sklavin.
Sie riß sich zusammen, um den Schrei zu unterdrücken, als sie spürte, wie der Dorn sich in den Rand ihrer Lippe bohrte. Der Kerl drehte ihn, bis er durch war. Sie blinzelte und versuchte durch die Tränen der Schmerzen etwas zu erkennen.
Nicht Gold, sagte sie sich, natürlich nicht Gold, aber auch nicht Kupfer. Sie fanden, daß sie einen Silberring wert war. Einesteils widerte sie ihre übertriebene Eitelkeit an. Was blieb ihr jetzt noch?
Der Mann, der nach Schweiß, Blut und Ruß stank, stieß ihr den gespalteten Ring durch die Lippe. Sie stöhnte hilflos vor Schmerz. Er beugte sich vor und schloß den Ring mit seinen schiefen gelben Zähnen.
Sie unternahm keinen Versuch, sich das vom Kinn tropfende Blut abzuwischen, als Kommandant Mallack ihr noch einmal in die Augen sah.
»Jetzt bist du Eigentum der Imperialen Ordnung.«
22
Clarissa glaubte, in Ohnmacht zu fallen. Wie konnte ein Mensch das Eigentum eines anderen sein? Zu ihrer Schande erkannte sie, zugelassen zu haben, daß sie für den Abt nicht viel mehr gewesen war. Oberflächlich betrachtet war er freundlich zu ihr gewesen, als Gegenleistung aber hatte er sie wie sein Eigentum betrachtet.
Sie wußte, daß diese Bestien nicht freundlich sein würden. Sie wußte, was sie mit ihr anstellen würden, und das würde beträchtlich schlimmer sein als die betrunkenen, impotenten Gefühlswallungen des Abtes. Der stahlharte Blick in den Augen des Mannes verriet ihr, daß diese Männer keine Schwierigkeiten hätten, alles durchzusetzen, was sie wollten.
Wenigstens war es Silber. Sie wußte nicht, wieso das für sie eine Rolle spielte, aber so war es.
»Ihr habt also Bücher hier?« fragte Kommandant Mallack. »Sind Prophezeiungen dabei?«
Der Abt hätte den Mund halten sollen. Um die Bücher zu beschützen, wollte sie jedenfalls nicht sterben. Außerdem würden diese Männer alles hier auseinandernehmen und sie ohnehin finden. Die Bücher waren nicht versteckt. Schließlich war man überzeugt gewesen, die Stadt sei vor einer Eroberung sicher.
»Ja.«
»Der Kaiser will, daß man alle Bücher zu ihm bringt. Du wirst uns zeigen, wo sie sich befinden.«
Clarissa schluckte. »Selbstverständlich.«
»Wie läuft's, Jungs?«, ließ sich eine freundliche Stimme hinter den Männern vernehmen. »Alles in Ordnung? Wie es scheint, habt ihr alles gut im Griff.«
Die drei Männer drehten sich um. Ein munterer älterer Herr stand in der Tür. Sein voller Schopf aus weißem, glattem Haar fiel ihm bis auf die breiten Schultern. Er trug hohe Stiefel, braune Hosen und ein weißes Rüschenhemd unter einer offenen grünen Weste. Der Saum seines schweren, braunen Umhangs schwebte dicht über dem Boden. In einer eleganten Scheide an seiner Hüfte steckte ein Schwert.
Der Prophet.
»Wer seid Ihr?« knurrte Kommandant Mallack.
Der Prophet warf sich den Umhang beiläufig über die eine Schulter. »Ein Mann, der eine Sklavin braucht.« Er schob einen der Männer zur Seite und ging gemessenen Schritts auf Clarissa zu. Mit seiner großen Hand faßte er sie am Kinn und begutachtete ihr Gesicht. »Diese hier wird genügen. Wieviel wollt Ihr für sie?«
Der kahlköpfige Kommandant Mallack krallte seine Faust in das weiße Hemd. »Die Sklaven gehören der Imperialen Ordnung. Sie sind sämtlich Eigentum des Kaisers.«
Der Prophet blickte mißbilligend auf die Hand an seinem Hemd hinab. Dann schlug er sie fort. »Finger weg von meinem Hemd, mein Freund. Eure Hände sind schmutzig.«
»Gleich sind sie voller Blut! Wer seid Ihr? Was ist Euer Beruf?«
Einer der anderen Männer setzte dem Propheten ein Messer an die Rippen. »Beantwortet Kommandant Mallacks Frage, oder Ihr sterbt. Was ist Euer Beruf?«
Der Prophet tat die Frage mit einer wegwerfenden Handbewegung ab.
»Keiner, der Euch interessieren würde. Also, was wollt Ihr für die Sklavin? Ich bin in der Lage, ein hübsches Sümmchen zu bezahlen. Warum solltet Ihr Jungs nicht auch einen Gewinn herausschlagen? Ich mißgönne niemandem seinen Profit.«
»Wir haben alle Beute, die wir wollen. Man braucht hier doch bloß zuzugreifen.« Der Kommandant sah zu dem Mann hinüber, der Clarissa den Ring durch die Lippe gebohrt hatte. »Töte ihn.«
Der Prophet wehrte die Männer mit einer lässigen Handbewegung ab. »Ich will Euch nichts Böses, Jungs.« Er beugte sich ein wenig vor. »Vielleicht überlegt Ihr es Euch noch mal?«
Kommandant Mallack öffnete den Mund, doch dann zögerte er. Er brachte kein Wort hervor. Clarissa vernahm ein gequältes Grummeln, das aus den Eingeweiden der drei Männer stammte. Die Männer rissen die Augen auf.
»Was ist?« erkundigte sich der Prophet. »Alles in Ordnung? Also, was haltet Ihr von meinem Angebot, Männer? Wieviel wollt Ihr für sie?«
Die Gesichter der drei Männer verzerrten sich gequält. Clarissa roch einen üblen Gestank.
»Nun ja«, meinte Kommandant Mallack mit gepreßter Stimme. »Ich denke…« Er verzog das Gesicht. »Wir, ah, wir müssen gehen.«
Der Prophet verneigte sich. »Oh, vielen Dank, Männer. Also fort mit Euch. Und überbringt meinem Freund, dem Kaiser Jagang, meine Empfehlung.«
»Aber was wird aus ihm?« fragte einer der Männer den Kommandanten, während sie sich langsam davonschlichen.
»Nicht lange, und ein anderer kommt vorbei und tötet ihn«, antwortete der Kommandant, derweil alle drei krummbeinig zur Tür hinausschlurften.
Der Prophet wandte sich ihr zu. Sein Lächeln verschwand, als er sie mit seinem Habichtblick betrachtete.
»Nun, habt Ihr Euch mein Angebot noch einmal überlegt?«
Clarissa zitterte. Sie war sich nicht recht im klaren, wen sie mehr fürchten sollte, die Angreifer oder den Propheten. Die Männer würden ihr weh tun. Was der Prophet ihr antun würde, wußte sie nicht. Vielleicht erzählte er ihr, auf welche Weise sie sterben wird.
Er hatte ihr vorhergesagt, wie eine ganze Stadt sterben würde, und genau so war es gekommen. Sie befürchtete, daß er alles wahrmachen konnte, was er sagte. Propheten besaßen Magie.
»Wer seid Ihr?« fragte sie leise.
Er machte eine dramatische Verbeugung. »Nathan Rahl. Ich habe es Euch bereits erklärt, ich bin Prophet. Verzeiht, daß ich davon absah, mich vorzustellen, aber wir haben nicht gerade sehr viel Zeit.«
Seine stechend blauen Augen machten ihr angst, trotzdem zwang sie sich zu fragen: »Wozu wollt Ihr eine Sklavin?«
»Nun, nicht für denselben Zweck wie diese Kerle.«
»Ich möchte nicht –«
Er nahm ihren Arm und zog sie ans Fenster. »Seht hinaus. Schaut hin!«
Zum ersten Mal verlor sie die Kontrolle über ihre Tränen und ließ ihnen unter hoffnungslosem Schluchzen freien Lauf. »Gütiger Schöpfer…«
»Er wird nicht kommen und helfen. Niemand kann diesen Leuten jetzt noch helfen. Ich kann Euch retten, aber Ihr müßt Euch einverstanden erklären, mir im Gegenzug ebenfalls zu helfen. Ich werde mein Leben und das von Zehntausenden anderer nicht wegen Euch aufs Spiel setzen, wenn Ihr mir nicht von Nutzen seid. Eher werde ich mir eine andere Frau suchen, die mich lieber begleitet, als zur Sklavin dieser Bestien zu werden.«
Sie zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. »Ist es gefährlich?«
»Ja.«
»Sterbe ich, wenn ich Euch helfe?«
»Vielleicht. Vielleicht überlebt Ihr auch. Wenn Ihr sterbt, dann bei einer noblen Tat: bei dem Versuch, noch größeres Leid als dieses zu verhindern.«
»Könnt Ihr den Menschen nicht helfen? Könnt Ihr dem kein Ende machen?«
»Nein. Was geschieht, geschieht. Wir können bestenfalls danach trachten, die Zukunft zu gestalten – die Vergangenheit können wir nicht ändern.
Ihr habt eine gewisse Ahnung, welche Gefahren die Zukunft birgt. Ihr hattet hier einmal einen Propheten wohnen, der einige seiner Prophezeiungen aufgeschrieben hat. Er war kein bedeutender Prophet, trotzdem ließ er sie hier zurück, wo ihr Narren sie als Offenbarung des Göttlichen Willens betrachtet.