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Das sind sie nicht. Es sind lediglich Worte, die eine Möglichkeit ausdrücken. Es steht in Eurer Macht, Euer Schicksal zu bestimmen. Ihr könnt bleiben und dieser Armee als Hure dienen, oder Ihr könnt Euer Leben aufs Spiel setzen und etwas tun, das sich lohnt getan zu werden.«

Sie zitterte unter dem kräftigen Zugriff seines Armes. »Ich … ich habe Angst.«

Seine tiefblauen Augen wurden sanfter. »Clarissa, würde es trösten, wenn ich Euch gestehe, daß ich ebenfalls ganz fürchterliche Angst habe?«

»Wirklich? Ihr wirkt so selbstsicher.«

»Sicher weiß ich nur eins: wie ich versuchen kann zu helfen. Und jetzt müssen wir in eure Archive gehen, bevor diese Kerle die Bücher zu Gesicht bekommen.«

Clarissa drehte sich um, froh über die Ausrede, sich seinem Blick zu entziehen. »Hier hinunter. Ich zeige Euch den Weg.«

Sie führte ihn die steinerne Wendeltreppe an der Rückseite des Zimmers hinunter. Die wurde nicht oft benutzt, weil sie schmal und beschwerlich zu begehen war. Der Prophet, der die Abtei entworfen hatte, war ein zierlicher Mann gewesen und hatte die Treppe seinen Bedürfnissen entsprechend angelegt. Daher war sie so schmal, daß sie sich nicht vorstellen konnte, wie dieser Prophet es schaffte, sie hinunterzusteigen. Aber es gelang ihm.

Auf dem dunklen Absatz unten entzündete er eine kleine Flamme in seiner Hand. Clarissa blieb erstaunt stehen und fragte sich, wieso er sich nicht die Hand versengte. Er drängte sie weiterzugehen. Eine niedrige Holztür führte zu einem kurzen Flur. Die Treppe in dessen Mitte führte weiter nach unten in die Archive. Durch die Tür am Ende des Flures kam man in den Hauptsaal der Abtei. Hinter dieser Tür wurden in diesem Augenblick Menschen ermordet.

Sie stieg die Treppe hinunter und nahm bei jedem Schritt zwei Stufen. Nathan bekam ihren Arm zu fassen, als sie ausrutschte, und verhinderte so, daß sie stürzte. Dies sei nicht die Gefahr, vor der er sie gewarnt hatte, scherzte er.

Unten in dem dunklen Raum streckte er eine Hand aus, und plötzlich entzündeten sich die an hölzernen Stützpfeilern hängenden Lampen. Die Stirn in Falten gelegt, ließ er den Blick prüfend über die Regale wandern, die die Wände des Raumes säumten. Zwei robuste Tische boten Platz zum Lesen und Schreiben.

Während er zu den Regalen links hinüberging, versuchte sie sich verzweifelt einen Ort zu überlegen, an dem sie sich vor den Soldaten der Imperialen Ordnung verbergen konnte. Irgendein Versteck mußte es doch geben. Früher oder später würden die Eroberer gewiß wieder abziehen, dann konnte sie wieder hervorkommen und wäre gerettet.

Sie fürchtete sich vor dem Propheten. Er erwartete etwas von ihr. Sie wußte nicht, was, bezweifelte jedoch, daß sie den Mut aufbringen würde, es zu tun. Sie wollte nichts weiter als ihre Ruhe.

Der Prophet schlenderte an den Regalen vorbei, blieb mal hier, mal dort stehen, um einen Band herauszunehmen. Er schlug die Bücher nicht auf, die er herauszog, sondern warf sie alle in der Mitte des Raumes auf den Boden und trat weiter zum nächsten Regal. Sämtliche Bücher, die er herauszog, enthielten Prophezeiungen. Er wählte längst nicht alle Bücher mit Prophezeiungen aus, aber die, die er herauszog, enthielten allesamt Prophezeiungen.

»Wieso ich?« fragte sie ihn, während sie ihm zusah. »Warum wollt Ihr gerade mich?«

Er hielt inne, den Finger auf einen schweren, in Leder gebundenen Band gelegt. Während er das Buch herauszog, sah er sie an wie ein Habicht eine Maus. Er trug es zu dem Haufen aus acht oder zehn Büchern hinüber, die bereits auf dem Fußboden lagen, legte es hin und nahm eins der anderen in die Hand.

Schließlich blieb er vor ihr stehen und blätterte darin.

»Hier. Lest das.«

Sie hob das schwere Buch aus seinen Händen und las die Stelle, auf die er zeigte:

Wenn sie aus freien Stücken geht, dann wird die Beringte in der Lage sein, das zu berühren, das lange nur den Winden allein anvertraut war.

Das lange nur den Winden allein anvertraut war. Die Unverständlichkeit der Worte weckte in ihr den Wunsch davon zurennen.

»Die Beringte«, sagte sie. »Bin ich damit gemeint?«

»Wenn Ihr Euch entscheidet, aus freien Stücken zu gehen.«

»Und wenn ich mich entscheide, hierzubleiben und mich zu verstecken? Was dann?«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Dann werde ich mir eine andere Frau suchen, die fliehen will. Ich habe Euch dieses Angebot zuerst gemacht, weil ich meine Gründe dafür hatte. Außerdem könnt Ihr lesen. Es gibt mit Sicherheit noch andere, die lesen können. Wenn es sein muß, werde ich eine andere finden.«

»Was ist das, das die ›Beringte‹ berühren kann?«

Er riß ihr das Buch aus den zitternden Händen und klappte es zu. »Versucht nicht zu verstehen, was die Worte bedeuten. Ich weiß, daß Ihr das hier versucht, aber ich bin ein Prophet, und ich kann Euch mit großem Nachdruck versichern, daß ein solches Unterfangen vollkommen sinnlos wäre. Ganz gleich, was Ihr Euch denkt und wovor Ihr Euch fürchtet, Ihr werdet einem Irrtum aufsitzen.«

Ihre Entschlossenheit, mit ihm fortzugehen, ließ nach. Trotz seiner scheinbaren Freundlichkeit oben im Turm, als er sie gerettet hatte, machte ihr der Prophet angst. Vor einem Mann, der solche Dinge wußte wie er, mußte man sich ja fürchten.

Sie erschrak, als er ihren Namen aussprach.

»Clarissa«, wiederholte er. »Geht und holt ein paar von den Soldaten her. Erklärt ihnen, daß Ihr den Auftrag habt, sie zu den Archiven unten zu führen.«

»Warum? Warum wollt Ihr, daß ich sie holen gehe?«

»Tut, was ich sage. Erklärt ihnen, Kommandant Mallack habe gesagt, Ihr sollt sie zu den Büchern führen. Falls es Schwierigkeiten gibt, erklärt ihnen, er habe noch hinzugefügt, sie ›sollen ihren armseligen Hintern sofort zu den Büchern runterschaffen, oder der Traumwandler wird ihnen einen Besuch abstatten, den sie noch bedauern werden!‹«

»Aber wenn ich dort hinaufgehe…«

Sie ließ den Satz unbeendet, als er sie fest ansah. »Falls Ihr Schwierigkeiten habt, dann sagt ihnen diese Worte, und Ihr werdet zurechtkommen. Bringt sie hierher.«

Sie öffnete den Mund, um zu fragen, warum er wollte, daß sie zu den Büchern herunterkämen, doch angesichts seiner Miene schwieg sie. Sie lief die Treppe hoch, froh, von dem Propheten fort zu sein, auch wenn sie sich darüber im klaren war, daß sie diesen brutalen Kerlen gegenübertreten mußte.

Vor der Tür zum großen Saal zögerte sie. Sie konnte fliehen. Doch der Abt hatte ihr denselben Vorschlag gemacht, fiel ihr ein, und den hatte sie für töricht gehalten. Es gab keinen Ort, wo man sich hätte verbergen können. Sie hatte einen silbernen Ring, vielleicht war der zu irgend etwas gut. Diese Männer maßen ihr wenigstens so viel Wert bei.

Sie öffnete die Tür und machte einen Schritt, doch dann blieb sie bei dem Anblick, der sie begrüßte, stehen und riß die Augen auf. Die Doppeltür zur Straße hin war zersplittert. Der Fußboden war mit Leichen von Männern übersät, die in die Abtei geflohen waren, um dort Schutz zu suchen.

Der große Saal war zum Bersten mit Eroberern gefüllt. Zwischen den blutigen Toten wurden Frauen vergewaltigt. Clarissa stand offenen Mundes da wie zu Eis erstarrt und gaffte.

Männer standen in Gruppen zusammen und warteten darauf, daß sie an die Reihe kämen. Die größten Gruppen warteten auf die Frauen mit den Goldringen. Was diesen Frauen angetan wurde, trieb Clarissa den Mageninhalt hoch. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und zwang sich, ihn hinunterzuschlucken.

Wie gebannt stand sie da, unfähig, den Blick von der nackten Manda Perlin abzuwenden, einer jener jungen Frauen, die sie oft gequält hatte. Manda hatte einen reichen Mann mittleren Alters geheiratet, der Geld verlieh und in Frachtgut investierte. Ihr Mann, Rupert Perlin, lag gleich daneben. Man hatte ihm die Kehle mit solcher Wucht aufgeschlitzt, daß ihm der Kopf fast vom Körper getrennt worden war.