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Clarissa betastete ihre Lippe, nachdem Nathan seine Hand zurückgezogen hatte. Sie pochte nicht mehr. Die Wunde um den Ring war verheilt.

»Danke – Prophet.«

»Nathan.« Er strich ihr übers Haar. »Wir müssen gehen. Je länger wir bleiben, desto größer die Gefahr, daß wir nicht mehr entkommen.«

Clarissa nickte. »Ich bin bereit.«

»Noch nicht.« Er nahm ihre Wangen in seine großen Hände. »Wir müssen durch die Stadt gehen, durch die ganze Stadt, um von hier zu fliehen. Ihr habt schon zuviel gesehen. Ich möchte nicht, daß Ihr noch mehr seht oder hört. Wenigstens das will ich Euch ersparen.«

»Aber ich verstehe nicht, wie wir jemals an der Imperialen Ordnung vorbeikommen sollen.«

»Das laßt nur meine Sorge sein. Erst einmal werde ich Euch mit einem Bann belegen. Ihr werdet blind sein, damit Ihr nicht noch mehr von dem Leiden und Sterben seht, das Eure Stadt über sich ergehen lassen muß, und Ihr werdet taub sein, damit Ihr auch nichts davon hört.«

Vermutlich hatte er Angst, sie könnte in Panik geraten und sich verraten. Sie wußte nicht, daß er sich damit vielleicht irrte.

»Wenn Ihr meint, Nathan. Ich werde tun, was Ihr verlangt.«

Er stand dort im Dämmerlicht, zwei Stufen unter ihr, damit sein Gesicht sich auf gleicher Höhe mit ihrem befand, und lächelte sie voller Wärme an. Denn so alt er war, er war ein auffallend gutaussehender Mann.

»Ich habe die richtige Frau ausgewählt. Ihr werdet Eure Sache gut machen. Ich bete, daß die Guten Seelen Euch für Eure Hilfe die Freiheit schenken.«

Sie hielt im Gehen seine Hand, und das war ihre einzige Verbindung mit der Welt. Sie konnte das Gemetzel nicht sehen. Sie konnte die Schreie nicht hören. Sie konnte die Feuer nicht riechen. Und doch wußte sie, daß diese Dinge rings um sie geschahen.

In ihrer Welt des Schweigens betete sie im Gehen, sie betete, daß die Guten Seelen für diejenigen sorgten, die an diesem Tag gestorben waren, und für die, die noch lebten, erflehte sie von den Guten Seelen Kraft.

Er lenkte sie um Trümmer herum und um die Hitze der Brände. Er hielt ihre Hand fest, wenn sie über Geröll stolperte. Stundenlang, endlos schienen sie durch die Ruinen dieser Stadt zu laufen.

Gelegentlich blieben sie stehen, und sie verlor den Kontakt zu seiner Hand, während sie still und alleine in ihrer Welt der Stille stand. Sie konnte weder sehen noch hören, daher kannte sie den genauen Grund für den Halt nicht, sie vermutete jedoch, daß Nathan gezwungen war, sich herauszureden. Manchmal schien ein solcher Halt kein Ende zu nehmen, und ihr Herz raste bei dem Gedanken an die unsichtbaren Gefahren, die Nathan vielleicht gerade abwendete. Manchmal legte er ihr dann plötzlich den Arm um die Hüfte und drängte sie zum Rennen.

Sie fühlte sich in seiner Obhut sicher und auch ermutigt.

Ihre Hüftgelenke schmerzten vom Gehen, und ihre müden Füße pochten. Schließlich legte er ihr beide Hände auf die Schultern, drehte sie herum und half ihr sich zu setzen. Sie spürte kühles Gras unter sich.

Plötzlich kehrte ihr Sehvermögen zurück, zusammen mit ihrem Gehör und dem Geruchssinn.

Vor ihr breiteten sich weite, niedrige grüne Hügel aus. Sie blickte sich um und sah nur Landschaft. Nirgendwo waren Menschen. Die Stadt Renwold war nicht zu entdecken.

Sie faßte Mut und gab sich dem aufkeimenden warmen Gefühl der Erleichterung darüber hin, daß sie nicht nur dem Gemetzel entronnen war, sondern auch ihrem alten Leben.

Das Grauen hatte sich so tief in ihre Seele eingebrannt, daß sie glaubte, in einem Glutofen der Angst neu geformt worden zu sein, und herausgekommen war ein neuer, glänzender Barren, der gehärtet war für das, was vor ihnen lag.

Was immer ihr bevorstand, es konnte nicht schlimmer sein als das, was ihr bevorgestanden hätte, wäre sie geblieben. Hätte sie sich entschieden zu bleiben, wäre das eine Abkehr davon gewesen, anderen und sich selbst zu helfen.

Sie wußte nicht, was er von ihr verlangen würde, aber jeder Tag in Freiheit war ein Tag, den sie ohne den Propheten nicht erlebt hätte. »Danke, Nathan, daß Ihr mich ausgesucht habt.« Er blickte gedankenversunken in die Ferne und schien sie nicht zu hören.

23

Schwester Verna drehte sich nach dem Durcheinander um und sah einen Späher von seinem schweißbedeckten Pferd herunterspringen, noch bevor es in der fast völligen Dunkelheit zum Stillstand kam. Der Späher keuchte und versuchte, gleichzeitig wieder zu Atem zu kommen und dem General Bericht zu erstatten. Die sichtlich gespannte Körperhaltung des Generals lockerte sich, als er den Bericht entgegennahm. Mit einer munteren Geste forderte er seine Offiziere auf, ihre Besorgnis ebenfalls aufzugeben.

Sie konnte den Bericht des Spähers nicht hören, wußte jedoch, was er besagte. Sie brauchte keine Prophetin zu sein, um zu wissen, was der Kundschafter gesehen hatte.

Diese Narren. Sie hätte ihm dasselbe erzählen können.

Der lächelnde General Reibisch kam auf sie zu, die buschigen Brauen gutgelaunt hochgezogen. Als er in den Lichtkreis des Lagerfeuers trat, entdeckten seine gräulich-grünen Augen sie.

»Prälatin! Hier seid Ihr. Es gibt gute Neuigkeiten!«

Verna, in Gedanken bei anderen, wichtigeren Dingen, lockerte das Tuch über ihren Schultern.

»Verratet es mir nicht, Generaclass="underline" Meine Schwestern und ich müssen nicht die ganze Nacht nervöse Soldaten beruhigen und Banne aussprechen, die Euch verraten, wo in Panik geratene Männer sich versteckt haben, um das Ende der Welt abzuwarten.«

Er kratzte sich am rostfarbenen Bart. »Nun, ich weiß Eure Hilfe zu schätzen, Prälatin, aber nein, das müßt Ihr nicht. Ihr hattet wie gewöhnlich recht.«

Sie schnaubte, als wollte sie sagen: »Hab' ich es Euch nicht gleich gesagt.«

Der Späher hatte oben auf einem Hügel Ausschau gehalten und von dort aus das Aufgehen des Mondes früher sehen können als jeder unten im Tal.

»Mein Mann sagt, der Mond sei heute nacht nicht rot aufgegangen. Ich weiß, das hattet Ihr mir schon mitgeteilt, und auch, daß es nicht mehr als drei Nächte lang dauern würde, dennoch bin ich überaus erleichtert, daß alles wieder seinen gewohnten Gang geht, Prälatin.«

Seinen gewohnten Gang geht! Das wohl kaum.

»Freut mich, General, daß wir alle zur Abwechslung mal eine ganze Nacht lang werden durchschlafen können. Ich hoffe außerdem, daß Eure Männer etwas gelernt haben und in Zukunft, wenn ich ihnen erkläre, daß die Unterwelt nicht im Begriff steht, uns zu verschlingen, ein wenig mehr Vertrauen zu mir fassen.«

Er lächelte hilflos. »Ja, Prälatin. Ich glaube Euch natürlich, doch einige von diesen Männern sind abergläubischer, als für ihren Kampfesmut gut ist. Magie macht ihnen angst.«

Sie beugte sich ein wenig näher zu dem Mann vor und senkte die Stimme. »Das sollte sie auch.«

Er räusperte sich. »Ja, Prälatin. Nun, ich denke, wir alle sollten jetzt ein wenig schlafen.«

»Eure Boten sind noch nicht zurück, nicht wahr?«

»Nein.« Er fuhr sich mit dem Finger über den unteren Teil der weißen Narbe, die von seiner linken Schläfe bis zu seinem Kiefer reichte. »Ich gehe nicht davon aus, daß sie Aydindril schon erreicht haben.«

Verna seufzte. Sie hätte gerne erst Nachricht gehabt. Die Entscheidung wäre ihr dann leichter gefallen.

»Vermutlich nicht.«

»Was ist Eure Meinung, Prälatin? Wie lautet Euer Rat? Nach Norden?«

Sie starrte ins Leere, sah den Funken zu, die aus dem Feuer spiralförmig in die Dunkelheit aufstiegen, und spürte dessen Hitze auf dem Gesicht. Sie hatte wichtigere Entscheidungen zu fällen.

»Ich weiß nicht. Richards genaue Worte an mich lauteten: ›Reitet nach Norden. Eine Armee von einhunderttausend d'Haranischen Soldaten zieht auf der Suche nach Kahlan Richtung Süden. Bei ihnen seid Ihr sicherer aufgehoben und sie bei Euch ebenfalls. Erklärt General Reibisch, daß sie bei mir in Sicherheit ist.‹«