»Nun, Prälatin, in Anbetracht der Tatsache, daß die gegnerischen Truppen wahrscheinlich von Zauberern begleitet werden, frage ich mich, ob ich darauf zählen kann, daß Ihr und Eure Schwestern gegen sie antretet. Lord Rahl meinte: ›Ihr seid bei Ihnen sicherer aufgehoben, und sie bei Euch ebenfalls.‹ Für mich klingt das, als wollte er, daß Ihr Eure Magie benutzt, um uns gegen die Armee der Imperialen Ordnung zu unterstützen.«
Verna hätte gern geglaubt, daß sich der General täuschte. Zu gern hätte sie auch geglaubt, daß die Schwestern des Lichts, die den Auftrag hatten, das Werk des Schöpfers zu tun, darüber erhaben wären, jemandem ein Leid zuzufügen.
»Das gefällt mir gar nicht, General Reibisch, nur fürchte ich, ich bin trotzdem einverstanden. Wenn wir diesen Krieg verlieren, verlieren wir ihn alle gemeinsam, nicht nur unsere Soldaten auf dem Schlachtfeld. Alle freien Menschen werden zu Sklaven der Imperialen Ordnung werden. Wenn Jagang gewinnt, wird er die Schwestern des Lichts hinrichten lassen. Wir alle müssen entweder kämpfen oder sterben.
Die Imperiale Ordnung wird sich nur ungern so bequem in Eure Pläne fügen wollen. Möglicherweise versuchten sie, unbemerkt vorbeizuschleichen – weiter westlich, möglicherweise sogar weiter östlich von Euch. Die Schwestern könnten dabei helfen, die Bewegungen des Feindes aufzuspüren, sollte er in die Neue Welt vordringen.
Wenn jene, die Magie besitzen, die Bewegungen der Imperialen Ordnung vor Euch verbergen, werden unsere Schwestern das merken. Wir werden Eure Augen sein. Wenn es zu Kämpfen kommt, wird der Feind Magie einsetzen, um Euch zu besiegen. Wir werden unsere Kraft benutzen, um diesen Plan zu vereiteln.«
Der General sah einen Augenblick nachdenklich in die Flammen. Er schaute kurz zu den Männern hinüber, die sich zur Nacht schlafen legten.
»Danke, Prälatin. Ich weiß, diese Entscheidung fällt Euch nicht leicht. Seit Ihr bei uns seid, habe ich die Schwestern als sanftmütige Frauen kennengelernt.«
Verna mußte schallend lachen. »General, Ihr habt uns überhaupt noch nicht kennengelernt. Die Schwestern des Lichts sind vieles, sanftmütig hingegen sind sie ganz bestimmt nicht.« Sie machte eine knappe Bewegung mit dem Handgelenk. Der Dacra schnellte hervor. Ein Dacra ähnelte einem Messer, hatte jedoch einen spitzen Dorn anstelle einer Klinge.
Verna ließ den Dacra um die Finger kreisen. »Ich mußte schon einmal Männer töten.« Der Widerschein des Feuers blinkte und funkelte auf der Waffe, die sie mit geübter Leichtigkeit herumwirbelte und über die Fingerknöchel wandern ließ. »Eins kann ich Euch versichern, General, ich war dabei alles andere als sanftmütig.«
Er runzelte die Stirn. »Ein Messer in begabten Händen wie den Euren bedeutet Ärger, aber den Waffen des Krieges ist es wohl kaum ebenbürtig.«
Sie lächelte höflich. »Diese Waffe verfügt über tödliche Magie. Wenn Ihr eine dieser Waffen auf Euch zukommen seht, dann lauft davon. Sie braucht bloß Eure Haut zu ritzen – und sei es nur Euer kleiner Finger –, und Ihr seid tot, bevor Ihr mit den Augen blinzeln könnt.«
Er richtete sich auf, und seine Brust schwoll unter einem tiefen Seufzer an. »Danke für die Warnung. Und danke für Eure Hilfe, Prälatin. Ich bin froh, Euch auf unserer Seite zu wissen.«
»Ich bedauere, daß Jagang einige von unseren Schwestern des Lichts unter seiner Kontrolle hat. Sie können dasselbe tun wie ich, vielleicht sogar mehr.« Als sie sah, wie blaß sein Gesicht geworden war, gab sie ihm einen tröstlichen Klaps auf die Schulter. »Gute Nacht, General Reibisch. Schlaft gut – der rote Mond ist verschwunden.«
Verna sah zu, wie der General sich unter seine Offiziere mischte, mal hier, mal dort mit ihnen redete, nach seinen Männern sah und Befehle erteilte. Nachdem er in der Dunkelheit untergetaucht war, drehte sie sich um und ging zu ihrem Zelt.
Tief in Gedanken versunken, zündete sie mit ihrem Han die Kerzen im Innern des kleinen Feldzeltes an, das die Männer ihr zur Verfügung gestellt hatten. Der Mond war aufgegangen, und Annalina – die eigentliche Prälatin – wartete bestimmt schon.
Verna zerrte das kleine Reisebuch aus der Geheimtasche in ihrem Gürtel. Reisebücher besaßen eine Magie, aufgrund derer eine Nachricht, die in das eine geschrieben wurde, gleichzeitig in seinem Gegenstück erschien. Prälatin Annalina besaß das Gegenstück zu Vernas. Sie setzte sich auf ihre Decken und schlug das Buch in ihrem Schoß auf.
Eine Nachricht wartete. Verna zog eine Kerze näher heran und beugte sich in dem schwachen Licht vor, um die Schrift in dem Reisebuch besser erkennen zu können.
Wir haben Schwierigkeiten hier, Verna. Endlich haben wir Nathan oder jemanden, den wir für Nathan hielten, eingeholt. Wie sich herausstellte, war der Mann, den wir verfolgt haben, gar nicht unser Prophet. Er hat uns getäuscht. Er ist verschwunden, und wir wissen nicht, wohin.
Verna seufzte. Sie hatte sich schon gedacht, daß es zu gut geklungen hatte, um wahr zu sein, als Ann ihr berichtete, sie seien dem Propheten ganz dicht auf den Fersen.
Nathan hat uns eine Nachricht hinterlassen. Die Nachricht verheißt noch größeren Arger als die Vorstellung, daß er frei herumläuft. Er behauptet, er habe wichtige Dinge zu erledigen – eine ›unserer Schwestern‹ stehe im Begriff, eine sehr große Dummheit zu begehen, und er müsse sie, wenn möglich, daran hindern. Wir haben keine Ahnung, wohin er aufgebrochen ist. Er bestätigte mir außerdem, was Warren deinem Bericht zufolge sagte: Der rote Mond bedeutet, daß Jagang eine Prophezeiung mit verknüpften Gabelungen in Kraft gesetzt hat. Nathan forderte mich und Zedd auf, wir müßten zum Jocopo-Schatz gehen. Wir alle würden sterben, sollten wir statt dessen Zeit darauf vergeuden, ihn zu verfolgen.
Ich glaube ihm. Wir müssen miteinander sprechen, Verna. Antworte, wenn du da bist, Verna. Ich werde warten.
Verna zog den Stift aus dem Buchrücken. Sie hatten den Mondaufgang als Zeitpunkt ausgemacht, um über das Reisebuch miteinander zu korrespondieren. Sie schrieb in ihr Buch:
Da bin ich, Ann. Was ist passiert? Geht es Euch gut?
Einen Augenblick später erschienen im Buch die ersten Worte.
Das ist eine lange Geschichte, und dafür habe ich jetzt keine Zeit, aber Schwester Roslyn war ebenfalls hinter Nathan her. Sie wurde zusammen mit wenigstens achtzehn unschuldigen Menschen getötet. Die genaue Zahl, die in dem Lichtbann verbrannt wurde, kennen wir nicht.
Verna bekam große Augen, als sie hörte, daß Menschen auf diese Weise getötet worden waren. Sie wollte fragen, wie sie auf die Idee gekommen waren, ein so gefährliches Netz auszuwerfen, entschied sich jedoch dagegen und las weiter.
Zuallererst, Verna, müssen wir wissen, ob du eine Ahnung hast, was der ›Jocopo-Schatz‹ ist. Nathan hat es nicht näher erklärt.
Verna legte einen Finger an die Lippen, preßte die Augen fest zusammen und versuchte sich zu erinnern. Sie hatte den Namen schon einmal gehört. Auf ihrer Reise in die Neue Welt war sie über zwanzig Jahre unterwegs gewesen, und der Name war ihr bereits untergekommen.
Ann, ich glaube, gehört zu haben, daß die Jocopo ein Volk seien, das irgendwo in der Wildnis lebt. Wenn ich mich recht erinnere, sind sie alle tot – sie wurden in einem Krieg ausgerottet. Sämtliche Spuren von ihnen wurden vernichtet.
In der Wildnis, sagst du. Bist du sicher, daß es die Wildnis war, Verna?
Ja.
Warte einen Augenblick, bis ich Zedd die Neuigkeiten berichtet habe.
Die Minuten zogen sich träge dahin, während Verna auf die leere Stelle am Ende der Schrift starrte. Endlich kamen wieder Worte zum Vorschein.
Zedd hat einen Wutanfall bekommen, flucht wüst und fuchtelt mit den Armen um sich. Er schwört Eide auf das, was er Nathan antun wird. Ich bin ziemlich sicher, daß seine meisten Absichten praktisch undurchführbar sind. Der Schöpfer demütigt mich dafür, daß ich mich darüber beschwert habe, Nathan sei unverbesserlich. Ich glaube, ich bekomme soeben eine Lektion darüber erteilt, was unverbesserlich wirklich bedeutet.