Die Wildnis ist ein weites Land, Verna. Hast du irgendeine Vorstellung, wo genau?
Nein. Tut mir leid. Ich erinnere mich, nur ein einziges Mal gehört zu haben, wie jemand die Jocopo erwähnte. Irgendwo im Süden von Kelton bewunderte ich in einem Raritätenladen eine alte Tonscherbe. Dem Besitzer zufolge stammte sie von einer untergegangenen Kultur aus der Wildnis. Er nannte sie die Jocopo. Das ist alles, was ich weiß. Damals war ich auf der Suche nach Richard, nicht nach verschwundenen Kulturen. Ich werde mich mit Warren beraten. Vielleicht weiß er etwas aus den Büchern.
Danke, Verna. Wenn du etwas herausfindest, benachrichtige mich sofort. Hast du eine Ahnung, welche Dummheit diese Schwester Nathans Ansicht nach begehen will?
Nein. Wir befinden uns alle hier bei der d'Haranischen Armee. General Reibisch will sich südlich halten, um sich der Imperialen Ordnung in den Weg zu stellen, sollte sie einmarschieren. Wir warten auf Nachricht von Richard. Es gibt allerdings Schwestern des Lichts, die von Jagang festgehalten werden. Wer weiß schon, wozu er sie zwingen wird?
Ann, hat Nathan irgend etwas von einer Prophezeiung mit verknüpfter Gabelung erwähnt? Warren kann vielleicht helfen, wenn Ihr mir den Wortlaut der Prophezeiung mitteilt.
Es folgte eine Pause, bevor Anns Schrift aufs neue erschien.
Nathan hat uns den genauen Wortlaut nicht mitgeteilt. Er schrieb, die Seelen hätten ihm den Zugang zu der Bedeutung verwehrt. Er behauptete aber, das Opfer des Dilemmas sei Richard.
Verna verschluckte sich vor Schreck an ihrer Spucke. Sie mußte kräftig husten, um sie wieder aus ihren Lungen herauszubekommen. Da ihr die Augen dabei tränten, hielt sie das Buch in die Höhe und las die letzte Nachricht noch einmal. Schließlich bekam sie ihre Lungen und die Kehle wieder frei.
Ann, Ihr habt Richard geschrieben. Meint Ihr wirklich Richard?
Ja.
Verna schloß die Augen und versuchte mit einem leisen Gebet ihre panikartige Unruhe zu unterdrücken.
Sonst noch etwas? schrieb Verna.
Im Augenblick nicht. Deine Information über die Jocopo wird uns weiterhelfen. Wir können unsere Suche jetzt einengen und wissen, wonach wir fragen müssen. Ich danke dir. Solltest du noch mehr herausfinden, lasse es mich wissen. Zedd klagt über lebensbedrohenden Hunger.
Ann, ist alles in Ordnung mit Euch und dem Obersten Zauberer?
Alles in bester Ordnung. Er trägt seinen Halsring nicht mehr.
Ihr habt ihm den Halsring abgenommen? Bevor Ihr Nathan gefunden habt? Warum habt Ihr das getan?
Habe ich nicht. Das war er selbst.
Verna riß die Augen auf, als sie dies las. Sie hatte Angst zu fragen, wie ihm etwas Derartiges gelungen war, daher unterließ sie es. Verna glaubte, Anns Nachricht entnehmen zu können, daß dies ein wunder Punkt war.
Und trotzdem begleitet er Euch?
Ich bin nicht ganz sicher, wer hier wen begleitet, Verna, aber fürs erste haben wir beide die unheilverkündende Natur von Nathans Nachricht verstanden. Der Prophet benimmt sich manchmal ganz vernünftig.
Ich weiß. Zweifellos versucht der alte Knabe jetzt, irgendeine Frau zu becircen, damit sie über ihn herfällt und in seinem Bett landet. Möge der Schöpfer Euch beschützen, Prälatin.
In Wirklichkeit war Ann die Prälatin. Sie hatte Verna jedoch zur Prälatin ernannt, nachdem sie und Nathan ihren Tod vorgetäuscht hatten und zu einer wichtigen Mission aufgebrochen waren. Zur Zeit hielt jeder noch Ann und Nathan für tot und Verna für die Prälatin.
Danke, Verna. Noch eins. Zedd macht sich Sorgen wegen Adie. Er möchte gerne, daß du sie mal zur Seite nimmst und ihr erklärst, daß er lebt und wohlauf ist, sich allerdings in den ›Händen einer Verrückten‹ befindet.
Soll ich den Schwestern mitteilen, daß Ihr wohlauf seid, Ann?
Es dauerte eine Weile, bis die nächste Nachricht aufs neue sichtbar wurde.
Nein, Verna. Im Augenblick nicht. Es ist für dich und für sie einfacher, wenn sie dich als Prälatin betrachten. Nach dem, was Nathan uns erzählt hat, und in Anbetracht dessen, was wir jetzt unternehmen müssen, wäre es nicht ratsam, ihnen das zu erzählen. Wer weiß, wie lange das noch stimmt.
Verna verstand. Die Wildnis war eine gefährliche Gegend. Verna hatte dort Menschen töten müssen. Dabei hatte sie nicht mal versucht, Informationen aus ihnen herauszubekommen. Sie war sogar bestrebt gewesen, den Kontakt zu Menschen dort zu vermeiden. Damals war Verna jung und beweglich gewesen. Ann war fast so alt wie Nathan. Aber sie war eine Magierin und hatte einen Zauberer bei sich. Zedd war zwar auch nicht gerade mehr der Jüngste, aber er war alles andere als hilflos. Die Tatsache, daß es ihm gelungen war, seinen Rada'Han abzunehmen, sprach Bände über seine Fähigkeiten.
Sagt so etwas nicht, Ann. Seid vorsichtig. Ihr und Zedd müßt Euch gegenseitig beschützen. Wir alle brauchen Euch.
Danke, mein Kind. Paß auf die Schwestern des Lichts auf, Prälatin. Wer weiß, vielleicht will ich eines Tages die Führung wieder übernehmen.
Verna mußte lächeln, so tröstlich fand sie das Gespräch mit Ann, die selbst in auswegloser Lage noch den Humor behielt. Davon konnte Verna nur träumen. Ihr Lächeln erlosch, als ihr einfiel, daß Ann erzählt hatte, Richard sei das in der todbringenden Prophezeiung genannte Opfer.
Sie dachte über Nathans Warnung nach, eine der Schwestern stehe im Begriff, eine Dummheit zu machen. Hätte Nathan sich doch nur ein wenig klarer ausgedrückt. Mit ›Dummheit‹ konnte beinahe alles mögliche gemeint sein. Verna war nicht geneigt, ohne weiteres zu glauben, was Nathan von sich gab, andererseits kannte Ann ihn weit besser als Verna.
Sie dachte an die Schwestern, die Jagang gefangenhielt. Einige waren Schwestern des Lichts, und ein paar wenige waren liebe Freundinnen von Verna, und das schon seit ihrer Novizinnenzeit. Diese fünf – Christabel, Amelia, Janet, Phoebe und Verna – waren zusammen im Palast aufgewachsen.
Von diesen hatte Verna Phoebe zu einer ihrer Verwalterinnen ernannt. Nur Phoebe befand sich zur Zeit bei ihr. Christabel, Vernas beste Freundin, hatte sich dem Hüter der Unterwelt zugewandt. Sie war eine Schwester der Finsternis geworden und von Jagang gefangengenommen worden. Die beiden letzten von Vernas Freundinnen, Amelia und Janet, waren ebenfalls von Jagang gefangengenommen worden. Janet war dem Licht treu geblieben, das wußte Verna, aber bei Amelia war sie nicht sicher. Wenn sie noch immer treu ergeben war…
Verna preßte ihre zitternden Finger an die Lippen und dachte an ihre beiden Freundinnen, zwei Schwestern des Lichts, die Sklaven des Traumwandlers waren.
Am Ende war es das, was sie zu ihrem Entschluß ermutigte.
Verna spähte in Warrens Zelt hinein. Unaufgefordert spielte ein Lächeln über ihre Lippen, als sie seine Gestalt auf seinen Decken in der Dunkelheit erblickte, wo er wahrscheinlich den Gedanken eines jungen Propheten nachhing. Sie mußte darüber lächeln, wie sehr sie ihn liebte und daß sie wußte, wie sehr er sie liebte.
Verna und Warren waren beide im Palast der Propheten aufgewachsen und kannten sich fast schon ihr Leben lang. Mit ihrer Gabe als Magierin war sie für die Ausbildung junger Zauberer bestimmt, während seine Gabe als Zauberer ihn eher für Prophezeiungen vorsah.
Zwischen ihnen hatte es erst ernstlich gefunkt, als Verna mit Richard in den Palast zurückgekehrt war. Dank Richard, der das Leben im Palast vollkommen verändert hatte, waren Verna und Warren einander nähergekommen, und ihre Freundschaft entwickelte sich. Als Verna dann während ihres Kampfes gegen die Schwestern der Finsternis zur Prälatin ernannt wurde, waren sie und Warren auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Im Laufe dieser Auseinandersetzungen war ihr Verhältnis über bloße Freundschaft hinausgegangen. Nach all den Jahren hatten sie endlich ihre Liebe füreinander entdeckt.