Das Tagebuch hatte sich bereits als unbezahlbare Quelle des Wissens erwiesen, war jedoch auf Hoch-D'Haran geschrieben, was das Verständnis verkomplizierte. Berdine sprach etwas Hoch-D'Haran, allerdings keine so alte Form. Sie hatten ein anderes Buch zu Hilfe nehmen müssen, das in einer ähnlich alten Form des Hoch-D'Haran verfaßt war. Richards Kindheitserinnerungen an die Übersetzung dieses Buches halfen Berdine, die Wörter zu verstehen, die sie dann als Querverweise verwendeten, um die Übertragung des Tagebuches voranzutreiben.
Nach und nach lernte Richard eine ganze Menge sowohl von der volkstümlichen Variante des Hoch-D'Haran als auch von seiner sehr viel älteren Geheimsprachenversion, trotzdem kamen sie enttäuschend langsam voran.
Nachdem Richard Kahlan nach Aydindril zurückgebracht hatte, erklärte er ihr, wie er sie nur mit Hilfe des Buches hatte retten können. Er hatte erzählt, daß er manchmal scheinbar problemlos darin lesen könne, er und Berdine dagegen an anderen Stellen festsäßen. Manchmal könne er eine Seite in wenigen Stunden entschlüsseln, und dann wieder benötigten sie Tage, um einen einzigen Satz zu übertragen.
»Moss? Du sagtest, du hättest sie das Wort moss nachsehen lassen. Was bedeutet es?«
Er nippte an seinem Tee und setzte die Tasse wieder ab. »Moss? Oh, das bedeutet ›Wind‹ auf Hoch-D'Haran.« Er schlug eine Seite auf, die durch ein Lesezeichen gekennzeichnet war. »Weil es so lange gedauert hat, das Tagebuch zu übersetzen, haben wir nur nach Schlüsselbegriffen gesucht, uns dann auf die betreffenden Passagen konzentriert und auf unser Glück gehofft.«
»Ich dachte, du hättest erzählt, du übersetzt das Buch, um Kolos Verwendung der Sprache besser zu verstehen.«
Er seufzte genervt. »Dafür fehlt mir die Zeit, Kahlan. Wir mußten unser Vorgehen ändern.«
Das gefiel Kahlan nicht.
»Man erzählte mir, Richard, dein Bruder sei der Hohepriester eines Ordens mit dem Namen Raug'Moss. Ist das Hoch-D'Haran?«
»Es bedeutet ›Göttlicher Wind‹«, murmelte er.
Er tippte auf das Buch und schien ganz offenkundig nicht darüber diskutieren zu wollen. »Siehst du, hier? Berdine hat die Stelle gefunden, wo Kolo von einem roten Mond spricht. Er verlor darüber vollkommen die Fassung. Die gesamte Burg der Zauberer war deswegen in Aufruhr. Er schreibt, sie seien von der ›Mannschaft‹ verraten worden. Er sagt, die Mannschaft habe wegen ihrer Verbrechen vor Gericht gestellt werden sollen. Wir hatten noch keine Zeit, dem weiter nachzugehen. Aber…«
Richard schlug das Buch wieder weiter vorne auf, wo eine ihrer niedergeschriebenen Übersetzungen eingefügt war, und las ihr die Stelle vor:
»›Heute erfüllte sich, vielleicht nur dank der hervorragenden, unermüdlichen Arbeit einer Mannschaft aus fast einhundert Leuten, einer unserer sehnlichsten Wünsche. Die Dinge, deren Verlust wir für den Fall, daß wir überrannt werden sollten, am meisten fürchteten, wurden gesichert. Ein Jubelschrei löste sich aus den Kehlen aller in der Burg, als wir heute Nachricht erhielten, daß wir Erfolg gehabt hatten. Manch einer hatte dies nicht für möglich gehalten, doch zum Erstaunen aller ist es vollbracht: Der Tempel der Winde ist verschwunden.‹«
»Verschwunden?« fragte Kahlan. »Was ist der Tempel der Winde? Wohin ist er verschwunden?«
Richard klappte das Buch zu. »Das weiß ich nicht. Weiter hinten schreibt Kolo, die Mannschaft, die dies vollbracht hatte, habe sie alle verraten. Hoch-D'Haran ist eine eigenartige Sprache. Die Worte haben unterschiedliche Bedeutung, je nachdem, wie man sie verwendet.«
»Das ist in den meisten Sprachen so. Auch in unserer.«
»Ja, nur manchmal schreibt man in Hoch-D'Haran einem Wort, das normalerweise je nach Verwendung unterschiedliche Bedeutungen hat, absichtlich Mehrfachbedeutungen zu. Man kann sich nicht eine Bedeutung aussuchen und alle übrigen weglassen. Das macht das Übersetzen entsprechend schwierig.
In der alten Prophezeiung zum Beispiel, in der der Bringer des Todes genannt wird, steht das Wort ›Tod‹ für drei verschiedene Dinge, je nachdem, wie es verwendet wird: Es steht für den Bringer der Unterwelt, also für die Welt der Toten, für den Bringer der Seelen, also für die Seelen der Toten, und für den Bringer des Todes, sprich für das Töten. Jede Bedeutung ist anders, und doch sind alle drei beabsichtigt. Das war der Schlüssel.
Die Prophezeiung stand in dem Buch, das wir aus dem Palast der Propheten mitgebracht hatten. Warren konnte die Prophezeiungen erst übersetzen, nachdem ich ihm erklärt hatte, daß alle drei Bedeutungen zutreffen. Er erzählte mir, aus diesem Grund sei er seit dreitausend Jahren der erste, der die tatsächliche Bedeutung der Prophezeiung, so wie sie aufgeschrieben wurde, begriffen habe.«
»Was hat das mit dem Tempel der Winde zu tun?«
»Wenn Kolo von ›Winden‹ spricht, dann meint er, glaube ich, manchmal einfach nur den Wind, so wie man sagt, heute weht der Wind. Aber manchmal, wenn er von ›Wind‹ spricht, dann denkt er an den Tempel der Winde. Ich glaube, er benutzt es als Kurzform, um sich einerseits auf den Tempel der Winde zu beziehen und ihn andererseits von anderen Tempeln zu unterscheiden.«
Kahlan sah ihn fassungslos an. »Soll das etwa heißen, du glaubst, Shotas Nachricht, der Wind sei auf der Jagd nach dir, bedeutet in Wahrheit, der Tempel der Winde sei auf der Jagd nach dir?«
»Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.«
»Das wäre ein ziemlicher Gedankensprung, wenn das wirklich deine Überzeugung ist – Kolos Art, sich auf den Tempel der Winde zu beziehen, als Beweis dafür zu nehmen, daß Shota von demselben Ort spricht.«
»Wenn Kolo davon spricht, alle seien in Aufruhr gewesen und man habe diese Männer vor Gericht gestellt, dann klingt das bei ihm so, als besäßen die Winde eine Art sinnliche Wahrnehmung.«
Diesmal räusperte sich Kahlan. »Willst du mir etwa weismachen, Richard, Kolo behauptet, dieser Ort, dieser Tempel der Winde, sei zu Empfindungen fähig?«
Sie fragte sich, wie lange es her war, seit er ein bißchen Schlaf gefunden hatte, und ob er noch bei klarem Verstand war.
»Ich sagte, ich sei mir nicht sicher.«
»Aber genau darauf willst du hinaus.«
»Na ja, es klingt … absurd, wenn man es so formuliert. Doch wenn man es auf Hoch-D'Haran liest, hört es sich ganz anders an. Ich weiß nicht, wie ich den Unterschied erklären soll, trotzdem gibt es einen. Wenn auch möglicherweise nur einen graduellen.«
»Graduell oder nicht, wie kann ein Ort zu sinnlichen Wahrnehmungen oder Empfindungen fähig sein?«
Richard seufzte. »Ich habe keine Ahnung. Darauf habe ich mir noch keinen Reim machen können. Warum, glaubst du, habe ich mir die ganze Nacht um die Ohren geschlagen?«
»Aber so etwas ist unmöglich.«
Seine trotzigen Augen wandten sich zu ihr. »Die Burg der Zauberer ist einfach nur ein Ort, und doch weiß er, wann jemand ihn schändet. Er reagiert auf diese Schändung, indem er dem Betreffenden Einhalt gebietet, ihn sogar tötet, wenn es sein muß, um zu verhindern, daß ein Unbefugter einen Ort betritt, an dem dieser nichts zu suchen hat.«
Kahlan verzog das Gesicht. »Das sind die Schilde, Richard. Zauberer haben diese Schilde angebracht, um zu verhindern, daß gefährliche Gegenstände gestohlen werden oder sich Menschen an Orte begeben, an denen ihnen etwas zustoßen könnte.«
»Dennoch reagieren sie, ohne daß jemand ihnen sagen muß, was sie zu tun haben, oder?«
»Das tut eine Fußangel auch. Deshalb ist sie noch lange nicht zu Empfindungen fähig. Was du sagen willst, ist, daß der Tempel der Winde von Schilden geschützt wird. Mehr behauptest du also gar nicht – nur, daß er Schilde hat?«
»Ja und nein. Es geht um mehr als einfache Schilde. Schilde sichern nur. Bei Kolo klingt es so, als könne der Tempel der Winde … ich weiß nicht, als könne er denken und, wenn nötig, Entscheidungen treffen.«