»Keine Ahnung. Sie will, daß ich jemanden aufsuche.«
»Und dabei mußt du ihre Hand halten?« knurrte sie leise.
Er ließ erneut los.
Kahlan warf verstohlen einen Blick auf Drefan, der hinter Cara und Raina ging. Sie hakte sich bei Richard ein. »Wie fühlst du dich? Was hast du … herausgefunden?«
Richard legte seine Hand auf ihre und drückte sie. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er leise zu ihr. »Es war nicht, was ich dachte. Ich erzähle es dir später.«
»Was ist mit dem Mörder? Hat ihn schon jemand gefunden?«
»Ja, jemand hat ihn gefunden und für sein Verbrechen getötet«, erklärte Richard ihr. »Was ist mit den Abgesandten? Hast du dich darum gekümmert?«
Ihre Antwort ließ einen Augenblick auf sich warten. »Grennidon, Togressa und Pendisan haben kapituliert. Jara wird es vielleicht noch, aber dort möchte man noch zwei Wochen auf ein Zeichen aus dem Himmel warten.« Richard runzelte die Stirn. »Mardovia hat sich geweigert, sich uns anzuschließen. Sie haben beschlossen, neutral zu bleiben.«
Richard blieb mit einem Ruck stehen. »Was?«
Diejenigen, die hinter ihm gingen, wären fast auf ihn aufgelaufen.
»Sie weigern sich zu kapitulieren. Sie bestehen auf ihrer Neutralität.«
»Die Imperiale Ordnung erkennt keine Neutralität an. Und wir auch nicht. Hast du ihnen das nicht erklärt?«
Kahlans Gesicht war nichts anzumerken. »Natürlich habe ich das.«
Richard hatte sie nicht anschreien wollen. Er war wütend auf Mardovia, nicht auf sie.
»General Reibisch steht im Süden. Vielleicht können wir ihn Mardovia einnehmen lassen, bevor die Imperiale Ordnung sie zu faulendem Fleisch zermalmt.«
»Richard, sie haben ihre Chance gehabt. Jetzt sind sie lebende Tote. Wir dürfen das Leben unserer Soldaten nicht dafür verschwenden, Mardovia einzunehmen, nur um die Menschen dort zu schützen. Das ergäbe keinen Sinn und würde uns nur schwächen.«
Nadine drängte sich zwischen die beiden und funkelte Kahlan wütend an. »Ihr habt mit diesem üblen Jagang gesprochen. Ihr wißt, wie er ist. Diese Menschen werden alle umkommen, wenn Ihr sie dem Traumwandler überlaßt. Das Leben unschuldiger Menschen ist Euch einfach gleichgültig. Ihr seid herzlos.«
Aus den Augenwinkeln sah Richard etwas Rotes aufblitzen, als Cara ihren Strafer in die Hand schnellen ließ.
Richard drängte Nadine weiter. »Kahlan hat recht. Es hat nur einen Augenblick gedauert, bis es in meinen dicken Schädel, eingedrungen war. Mardovia hat sich für seinen Weg entschieden, jetzt muß es ihn auch bis zum Ende gehen. Wenn du mir jetzt jemanden zeigen willst, dann tu das. Ich habe wichtige Dinge zu erledigen.«
Nadine schnaubte beleidigt, warf ihr dichtes braunes Haar mit einer knappen Bewegung über die Schulter und marschierte weiter. Cara und Raina bedachten ihren Hinterkopf mit grimmigen Blicken. Und ein solcher Blick einer Mord-Sith war meist der Auftakt zu ernsten Konsequenzen. Richard hatte Nadine soeben wahrscheinlich vor diesen Konsequenzen bewahrt. Eines Tages würde er etwas gegen Shota unternehmen müssen. Bevor Kahlan es versuchte.
Richard beugte sich zu Kahlan vor. »Entschuldige. Ich bin todmüde und habe einfach nicht nachgedacht.«
Sie drückte seinen Arm. »Du hast versprochen, ein wenig zu schlafen, schon vergessen?«
»Sobald ich mich um diese Geschichte mit Nadine gekümmert habe, was immer es ist.«
Vor ihrer Zimmertür nahm Nadine Richard wieder bei der Hand und zog ihn hinein. Bevor er protestieren konnte, sah er den Jungen auf dem roten Stuhl sitzen. Richard glaubte, in ihm einen der Ja'La-Spieler wiederzuerkennen, denen er zugesehen hatte.
Der Junge war in Tränen aufgelöst. Als er Richard in das Zimmer kommen sah, sprang er vom Stuhl hoch und riß sich die schlabbrige Wollmütze von seinem blonden Haarschopf. Er stand da und zerknüllte sie, vor Erwartung zitternd, in der Hand, während ihm die Tränen über das Gesicht liefen.
Richard ging vor dem Jungen in die Hocke. »Ich bin Lord Rahl. Ich habe gehört, du mußt mich sprechen. Wie heißt du?«
Er schniefte. Die Tränen kamen immer wieder. »Yonick.«
»Also, Yonick, ganz ruhig. Was ist passiert?«
Er bekam nur das Wort ›Bruder‹ heraus, dann wurde er von Schluchzern überwältigt. Richard nahm den Jungen in die Arme und tröstete ihn. Der weinte heftig und klammerte sich an Richard. Sein Elend war herzzerreißend.
»Kannst du mir erzählen, was los ist, Yonick?«
»Bitte, Vater Rahl, mein Bruder ist krank. Sehr krank.«
Richard stellte den Jungen vor sich auf die Beine. »Tatsächlich? Woran ist er denn erkrankt?«
»Das weiß ich nicht«, jammerte Yonick. »Wir haben ihm Kräuter gekauft. Wir haben alles versucht. Er ist so krank. Seit ich das letzte Mal hier bei Euch war, ist er immer kränker geworden.«
»Als du das letzte Mal bei mir warst?«
»Ja«, fauchte Nadine. »Er war vor ein paar Tagen hier und hat um deine Hilfe gebettelt.« Nadine bohrte einen Finger in Kahlans Richtung. »Sie hat ihn weggeschickt.«
Kahlans Gesicht wurde tiefrot. Ihre Lippen bewegten sich, aber sie brachte kein Wort heraus.
»Sie interessiert sich doch nur für ihre Armeen und wie man den Menschen Leid zufügen kann. Um einen kleinen, armen, kranken Jungen schert sie sich nicht. Sie würde sich nur um ihn kümmern, wenn er irgendein toller, wichtiger Diplomat wäre. Sie weiß nicht, was es heißt, arm und krank zu sein.«
Richard brachte Caras Vorstoß mit einem wütenden Blick zum Stillstand. Er wandte sich zornerfüllt Nadine zu.
»Das reicht.«
Drefan legte Kahlan eine Hand auf die Schulter. »Ich bin sicher, Ihr hattet guten Grund für Euer Handeln. Schließlich konntet Ihr nicht wissen, wie krank sein Bruder ist. Niemand macht Euch einen Vorwurf.«
Richard wandte sich wieder dem Jungen zu. »Mein Bruder hier, Drefan, ist ein Heiler, Yonick. Bringe uns zu deinem Bruder, und wir werden sehen, ob wir ihm helfen können.«
»Und ich habe Kräuter«, mischte sich Nadine ein. »Ich werde deinem Bruder ebenfalls helfen, Yonick. Wir werden alles tun, was wir können. Das versprechen wir.«
Yonick rieb sich die Augen. »Bitte beeilt Euch. Kip ist sehr krank.«
Kahlan stand kurz davor, in Tränen auszubrechen. Richard hatte ihr zärtlich eine Hand auf den Rücken gelegt. Er spürte, wie sie zitterte. Es machte ihm angst, wie krank der Bruder des Jungen inzwischen womöglich war, und er wollte ihr das ersparen. Er befürchtete, sie könnte sich Vorwürfe machen.
»Warum wartest du nicht hier, während wir der Sache nachgehen.«
Ihre feuchtglänzenden grünen Augen blitzten ihn an. »Ich komme mit«, sagte sie zwischen zusammengepreßten Zähnen hindurch.
Richard gab den Versuch auf, sich das dichtgedrängte Gewirr aus engen Straßen und verschlungenen Gassen einzuprägen, durch das sie kamen, und merkte sich einfach nur, wo die Sonne am Himmel stand, um nicht die Orientierung zu verlieren, während Yonick sie durch einen Irrgarten von Gebäuden und ummauerten, mit Wäsche vollgehängten Innenhöfen führte.
Hühner flatterten gackernd vor ihnen auseinander. In manchen der winzigen Höfe standen ein paar Ziegen oder Schafe, gelegentlich das eine oder andere Schwein. Die Tiere wirkten inmitten der eng beieinander stehenden Häuser wie Fremdkörper.
Die Menschen oben ließen sich in ihren Gesprächen von Fenster zu Fenster nicht stören. Einige lehnten sich, auf ihre Ellenbogen gestützt weit vor, um die von einem kleinen Jungen angeführte Prozession zu betrachten. Sie erregte einiges Aufsehen. Richard wußte, daß es eher der Lord Rahl in seiner schwarzen Kriegszaubererkleidung mit dem goldenen Cape und die Mutter in ihrem ursprünglichen weißen Kleid waren, die hier bestaunt wurden, und nicht so sehr die Gruppe von Soldaten und die beiden Mord-Sith – Soldaten gab es überall, und die Menschen in der Stadt hatten wahrscheinlich nicht die geringste Ahnung, wer die beiden Frauen in brauner Lederkleidung waren.
Die Menschen auf den Straßen und in den kleinen Gassen schoben ihre Karren mit Gemüse, Holz oder Haushaltsgütern zur Seite, um Platz zu machen. Andere standen an den Wänden und sahen zu, als sei es eine improvisierte Miniaturparade, die unerwarteterweise durch ihre Gegend kam.