«Ich bin nichts als der Enkel eines Bauern», erklärte Salomo. «Israel ist ein Land von Bauern, die sich nicht mit den Gefahren des Meeres auskennen. Meine Untertanen sind arm, deine hingegen reich. Tyros ist auf dem Gipfel seines Ruhms, nicht wahr?»
Der Phönizier hörte der Schmeichelei nur mit einem Ohr zu.
«Und folgt dem Gipfel nicht der Absturz? Ich habe mich mit David, deinem Vater, gut verstanden. Nach seinen Siegen über die Philister und Moabiter hat er mich wie einen Verbündeten behandelt. Ist das auch deine Absicht?»
«Hat man dir nicht gesagt, warum ich hier bin?»
«Dein Reich hat sich vergrößert, seitdem du den israelitischen Thron bestiegen hast. Es reicht vom Jordan bis ans Meer und im Süden bis an den Rand des ägyptischen Deltas. Von deiner Politik hängen Tyros’ Frieden und Wohlstand ab.»
Der Phönizier hatte Angst, er könnte zu offen gesprochen haben. Würde diese Herausforderung einen Wutausbruch auslösen?
Salomo lächelte.
«Deine Worte erfüllen mich mit großer Freude», sagte er. «Israels Glück hängt von deinem ab. Unsere Freundschaft kann sich nur auf einen festen und dauerhaften Frieden gründen.»
Der König von Tyros zögerte.
«Ich hätte gern deine Weisheit auf die Probe gestellt», sagte er.
«Wie du willst.»
«Es gibt ein lebendiges Wesen, das sich nicht bewegen kann», sagte der Phönizier. «Erst im Sterben bewegt es sich endlich. Was ist das?»
Salomo dachte nach. Mit einer nicht wahrnehmbaren Geste drehte er den goldenen Ring auf seinem linken Ringfinger.
«Ein Baum», antwortete Salomo. «Lebend bewegt er sich nicht vom Fleck. Wenn der Holzfäller ihn fällt, stirbt er. Aber er wird zum Schiff, das auf dem Wasser fährt.»
Der König von Tyros gab sich geschlagen.
«Habe Dank für die Lehre», sagte Salomo. «Du hast auf deine Seemacht angespielt und mir die Schwäche Israels aufgezeigt. Aus diesem Grund brauche ich deine Hilfe.»
Während der Schreiber die Bemerkungen der beiden Herrscher festhielt, ließ sich der Phönizier von seinem Gesprächspartner bezaubern. Er glaubte daran, daß er den Frieden wollte.
«Man munkelt, daß du in Jerusalem einen prächtigen Tempel bauen willst.»
«Ja, das möchte ich sehr gern», bekannte Salomo. «Mein Vater ist gescheitert. Ich werde Erfolg haben. Und bei dir möchte ich gern viel Material kaufen, insbesondere Metalle, Zedern- und Zypressenholz.»
«Was bietest du dafür?»
«Getreide, Wein, Obst, Gewürze und Honig.»
«Ich brauche auch Weizen und Öl», forderte der König von Tyros.
«Dazu kommt noch der landwirtschaftliche Ertrag von zwanzig Dörfern in Galiläa.»
Der Phönizier war es zufrieden. Der Tauschhandel ließ sich für ihn gut an.
«Wie willst du das alles liefern? Du hast doch keinen Hafen, und die Straßen sind nicht gerade gut befahrbar.»
«Binnen eines Jahres gibt es einen Hafen», versicherte ihm Salomo. «Ich lasse dich an seinen Gewinnen teilhaben, jedoch zu einer Bedingung…»
«Und die wäre?»
«Schicke mir eine Mannschaft Steinhauer und Zimmerleute. Die besten Handwerker des Morgenlandes arbeiten in Tyros. Die Hebräer kennen sich nicht mit den geheimen Techniken aus, mit denen man einen Tempel baut, wie er mir vorschwebt.»
«Welchen Vorteil hätte ich davon?» fragte der König von Tyros.
«Gold», erwiderte Salomo.
«Gold», wiederholte sein Gesprächspartner. «Das heißt, du willst mich übers Ohr hauen.»
«Du läßt mich am Seehandel teilhaben. Dank meines Bündnisses mit Ägypten kann ich dir völlige Sicherheit garantieren. So ziehen wir beide Nutzen aus unserer Abmachung. Auf sich allein gestellt, kann Phönizien nicht überleben.»
Der König von Tyros überlegte nicht lange. Die unterschwelligen Drohungen Salomos waren nur zu klar. Die Lösung, die er vorschlug, war ebenso vernünftig wie unvermeidlich.
«Abgemacht, König von Israel. Du verdienst deinen Ruf zu Recht. Bleibt nur noch eine kleine Einzelheit… Welcher Oberbaumeister soll dein Heiligtum erbauen?»
Salomo wirkte verlegen.
«Ich suche noch nach einem», bekannte er. «Aber kein Hebräer scheint mir kundig genug, daß er ein Amt mit so hohen Anforderungen ausfüllen könnte.»
«Hast du dir die Mauern meines Palastes angesehen? Die Arbeit war nicht einfach. Ich habe sie einem jungen Baumeister anvertraut, und er hat sie zufriedenstellend ausgeführt. Er will Tyros jedoch demnächst verlassen.»
«Wie heißt er?»
«Meister Hiram.»
«Schicke ihn mir», bat Salomo.
«Ich werde es versuchen…»
«Warum dieses Zögern?»
«Weil sich Meister Hiram nichts befehlen läßt, ja, er ist sehr leicht zu kränken und wird aus zahlreichen Hauptstädten angefordert. Er übernimmt nur große Baustellen, auf denen er seine Kunst ausdrücken kann.»
Salomos Neugier war geweckt.
«Ist Jerusalem groß genug für sein Genie?»
«Das weiß ich nicht», antwortete der König von Tyros.
«Versuche, ihn zu überzeugen», bat Salomo.
Darauf gingen Salomo und sein Schreiber, und der König von Tyros ließ eine Tafel an den Pharao schreiben. Er hatte sein Versprechen gehalten und forderte nun den verheißenen Lohn, weil ihm ein gewisser Fisch namens Salomo ins Netz gegangen war.
Kapitel 16
Nagsara salbte sich das Gesicht mit einer erfrischenden Salbe auf der Basis von Ligusterblättern. Sie hatte sich die Fingernägel goldgelb bemalt und brachte Stunden damit zu, sich zu schmücken und für einen König schön zu machen, den sie fast nie zu sehen bekam. Nach seiner Rückkehr aus Tyros war Salomos Leidenschaft erloschen, und Nagsara hatte vergebens zu den Waffen der Verführung gegriffen. Ihr Gemahl hatte Jerusalem verlassen, ohne sie zu benachrichtigen, und sich in einem bescheidenen Haus in der Gegend von Ezjon-Geber am hintersten Ende des Golfes von Akkaba am Ufer des Roten Meeres niedergelassen.
«Du wolltest mich sehen, Majestät?» fragte der Oberhofmeister besorgt.
«Wo ist mein Gemahl?»
«In Ezjon-Geber.»
«Für wie lange? Seine Abwesenheit wird von Tag zu Tag ärgerlicher.»
«Der König baut einen Hafen», erläuterte der Oberhofmeister und befürchtete schon einen neuerlichen Wutausbruch seitens der Ägypterin. «Was möchtest du zum Abend speisen?»
«Ich habe keinen Hunger!» schrie Nagsara.
Der Oberhofmeister verzog sich. Die Königin ließ sich auf ihr Bett fallen und vergoß bittere Tränen.
In ihrer Not schwor Nagsara herauszufinden, was Salomos Aufmerksamkeit erregen und ihn zu ihr zurückführen würde.
Der aus Afrika kommende Wind tobte über dem Hafen von Ezjon-Geber und hinderte die großen Schiffe daran, in den Hafen einzulaufen. Salomos feines Haar flog im tosenden Sturm, der hohe Wellen auftürmte.
Israels König freute sich über die Arbeit, die Bautrupps unter Anleitung von Jerobeam ausgeführt hatten. Letzterer war glücklich, daß er seine Kenntnisse aufs neue hatte unter Beweis stellen können. Auf knapp tausendvierhundert Morgen war im Handumdrehen eine Stadt entstanden. Gewiß, die verwendeten Materialien waren von mittelmäßiger Qualität, und den Häusern mangelte es an Schönheit und Bequemlichkeit. Doch das Volk Israel besaß endlich einen großen Hafen. Salomo machte sich dennoch nichts vor. Die Hebräer hatten Angst vor dem Meer, hatten lieber festen Boden unter den Füßen. Sie würden es nie mit den phönizischen Seeleuten aufnehmen können, nie die Seefahrtswege des Morgenlands und des Abendlands kontrollieren. Doch das beabsichtigte er auch gar nicht. Wenn hier nach und nach Karawanen durch die befestigten, von sechzehn Ellen hohen Mauern bewachten Tore ein- und auszogen, so diente das der israelitischen Wirtschaft. Bald konnte man auch die beim König von Tyros gekauften Materialien ausladen. Ezjon-Geber würde als Zwischenstation für die afrikanischen, arabischen und indischen Handelswege zahlreiche Schiffe anziehen, die für das Recht auf einen Liegeplatz zahlen würden.