Der Oberbaumeister drehte sich um.
Seine Überraschung war so groß, daß er nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrücken konnte.
Ganz kurz glaubte er, in Salomo einen Doppelgänger Siamuns zu erblicken. Salomo trug ein purpurfarbenes Gewand, sein Kopf war unbedeckt, und dadurch ähnelte er dem jungen Pharao, der zu den brillantesten Schülern im Haus des Lebens gehört hatte. Doch das Licht täuschte. Hiram war Opfer eines Trugbilds gewesen, denn die gab es im Ghor.
«Von wo kommst du, Meister Hiram?»
«Aus Tyros. Sein König hat mir erzählt, daß du einen Baumeister suchst.»
Salomo war von diesem Mann mit dem feurigen Blick, der hohen Stirn und den breiten Schultern beeindruckt. Er hatte schwarzes Haar, dichte Wimpern und eine gerade Nase, die seinen Zügen etwas Ernstes verlieh. Kräftig und selbstsicher dieser Meister Hiram, der gehörte nicht zur Rasse der Sklaven und Diener. So wie Salomo verführerisch und bezaubernd war, war Hiram zurückhaltend, fast hochfahrend. Niemand am Hof in Jerusalem besaß einen so festen Charakter wie der aus Tyros gekommene Baumeister.
Salomo verspürte Bewunderung, in die sich Furcht mischte, so als hätte der Mann ihn zugleich begrüßt und verabschiedet.
Und Salomo machte Hiram neugierig. Israels König gab sich wie ein Pharao. Er war so ganz anders als die Gewaltherrscher und Stammeshäuptlinge, die ihre Macht dazu mißbrauchten, ihre Leidenschaften auf Kosten ihres Landes und ihres Volkes zu befriedigen.
Salomo war es nicht gewohnt, den Aufforderungen niedrig Gestellter Folge zu leisten, auch wenn es sich dabei um einen berühmten Baumeister handelte. Zwei Tage lang hatte er Hirams Vergangenheit ausforschen lassen. Elihap, sein Schreiber, hatte ihm mitgeteilt, daß der Oberbaumeister Sohn einer Witwe aus dem Stamm Dan und eines Tyrers sei. Er galt als scheu und als Einzelgänger, blieb gegen Ehrungen und Schmeicheleien gleichgültig, konnte die größten technischen Schwierigkeiten bewältigen und galt als Meister aller Materialien, auch der widerspenstigsten. Hiram ließ sich nicht wählen. Er wählte selbst.
«Welches ist deine Wissenschaft, Meister Hiram?»
«Die Kunst des Bauzeichnens.»
«Und wozu dient sie dir?»
«Damit kann ich Steine behauen, zusammenfügen und hochheben, daß sie sofort an den richtigen Platz kommen und das Gebäude der Zeit widersteht.»
Die Kunst des Bauzeichnens: Wer hatte nicht von dieser geheimnisvollen Kunst gehört, die durch die Jahrhunderte weitergereicht worden war und ohne die man kein großes Bauwerk errichten konnte? Die hebräischen Handwerker hatten keine Ahnung vom Bauzeichnen.
«Bist du damit einverstanden, mich in diese Kunst einzuführen?»
«Nein, Gebieter. Entweder stellst du mich ein und gibst mir alle Vollmacht auf meiner Baustelle, oder ich breche nach Hause auf.»
«Das ist nicht die Sprache eines Diplomaten, Meister Hiram.»
«Ich bin keiner und habe auch nicht die Absicht, einer zu werden.»
«Sind Zugeständnisse nicht der Anfang der Weisheit?»
«Das sehe ich ganz anders, König von Israel. Ist Weisheit nicht von den Göttern geschaffen, gibt es sie nicht schon Ewigkeiten vor der Geburt der Erde? Ist sie nicht die Quelle alles menschlichen Wissens?»
Ein rauhes Gebrüll störte ihre Unterhaltung.
Sprungbereit duckte sich ein Leopard auf einer an die zwanzig Ellen hohen Felswand über den beiden Männern und wollte sich die leichte Beute schnappen. Er war groß, schwer, ein prächtiges Raubtier und unendlich flink, wenn er behende wie der Steinbock von Fels zu Fels sprang.
Seine schwarz-gelben Augen musterten seine zukünftigen Opfer.
«Einer von uns überlebt es nicht», meinte Salomo, ohne daß seine Stimme zitterte. «Weißt du, wie man das Leben eines Königs verteidigt?»
«Zunächst einmal verteidige ich meins», erwiderte Hiram. «Ich bin nicht dein Diener.»
«Von diesem Augenblick an bist du es. Ich stellte dich als Oberbaumeister ein und vertraue dir den Bau eines großen Tempels in Jerusalem an. Dein Leben gegen meines, so lautet deine augenblickliche Aufgabe, falls es die Umstände erfordern.»
Sehr langsam stellte sich Hiram vor Salomo. Der Leopard richtete sich auf und brüllte erneut mit gefletschten Zähnen.
Israels König drehte den Ring, den ihm Bathseba gegeben hatte, dann fuhr er mit dem Zeigefinger über die Buchstaben, aus denen sich der Name Jahwe zusammensetzte.
Der Leopard erschrak und stieß ein Schmerzensgebrüll aus. Mit der rechten Pfote versuchte er einen unsichtbaren Gegner zu verscheuchen, der ihn in die Flanke stach. Gereizt sprang er auf eine Geröllhalde, verlor das Gleichgewicht und verschwand in dem Dornengestrüpp.
«Gott wacht über uns», sagte Salomo.
«Du wirst deinem Ruf gerecht», meinte der Baumeister.
«Dich hat nämlich Gott auf den Grund dieser Schlucht geführt. Er hat mir befohlen, dich zu wählen. Du gehörst dir nicht mehr, Meister Hiram.»
Kapitel 19
Hiram stieg in den Streitwagen, den Salomo fuhr und den ein Dutzend Männer unter dem Befehl von Banajas begleiteten. Dieser hatte den König vergeblich angefleht, sich nicht in die Tiefen des Ghor zu wagen.
Als er den König zusammen mit einem Fremdling herauskommen sah, durchzuckte ihn ein gotteslästerlicher Gedanke. War Salomo etwa ein Engel, der die Geschicke lenkte? Hatte er etwa ein Gespenst aus der Schlangengrube geholt, einen Dämon mit mannigfaltigen Kräften, dessen er sich zur Vergrößerung seiner Macht bedienen wollte?
Bei Hirams Anblick überkam Banajas ein ungutes Gefühl. Der Mann, den Salomo in einer Gegend abholte, die den Gläubigen verboten war, besaß eine gefährliche Kraft, die der eines Raubtieres gleichkam. Der General hatte Angst. Aber wie hätte er dem König das eingestehen können? Er, Israels Held, der Krieger, der mit bloßen Händen einen Löwen töten konnte, durfte nicht Sklave seiner Angst werden. Tief besorgt schwor sich Banajas, das Tun und Handeln dieses beunruhigenden Fremdlings zu beobachten, der sich zu rasch in die Gunst des Königs eingeschlichen hatte.
In der Ferne zeichnete sich Jerusalem blau und grau vor einem bedrohlichen Himmel ab. «Das ist meine Hauptstadt», sagte Salomo zu Hiram. «Betrachte sie gut. Sie wird der Ort deines Ruhms oder deines Unglücks, denn ich will nicht scheitern.»
«Du hast mich mit einer List gefangen», meinte Hiram. «Zum Arbeiten jedoch kannst du mich nicht zwingen.»
«Das ist auch nicht meine Absicht. Betrachte diese Stadt… Sie ist ein Diamant, der aus den höhergelegenen Gegenden Judäas emporgestiegen ist, der gesegnete Ort, an dem sich Nomaden und Seßhafte vereint haben, der begünstigte Ort, an dem sich die Straßen vom Mittelländischen Meer in die Provinzen des Ostens und die aus Phönizien und Ägypten kreuzen. Jerusalem ist das Herz eines Sterns, dessen Spitzen das Heilige Land bewässern. Heute sieht es noch wie eine Festung aus. Morgen wird es dank deiner Hilfe ein Schmuckkasten mit dem Tempel aller Tempel sein.»
Hiram dachte an Karnak, wo er die Freude des Lernens und Erschaffens hatte erfahren dürfen. Wenn er anfing, Israels König ein Heiligtum zu bauen, wie viele Jahre mußte er dann fern von Ägypten verbringen? Würde er lange genug leben, um seine Heimat wiederzusehen? Schon kurze Zeit nach seinem Aufbruch wurde ihm die Last der Verbannung zu schwer.
Über der Hauptstadt ballten sich schwarze Wolken zusammen. Ein eisiger Platzregen fiel auf den königlichen Zug. Hagelkörner prasselten Hiram ins Gesicht. Er blieb genauso ungerührt wie Salomo.
Nachdem sie durch die Ringmauer gefahren waren, hielt der Streitwagen auf einem kleinen Platz.
«Hier setze ich dich ab, Meister Hiram. General Banajas wird dich zu deiner Wohnung begleiten. Ruhe dich aus. Wir sehen uns bald wieder.»
Der Baumeister verneigte sich nicht. Banajas entsetzte sich über diesen Mangel an Ehrerbietung vor Israels König. Warum ließ sich Salomo das gefallen?