Die Ägypterin erreichte eine flache Stelle, in deren Mitte ein plumper Altar stand. Der Wind pfiff ihr um die Ohren. Er war zwar noch kalt, doch man konnte schon den herannahenden Frühling spüren.
Nagsara warf ihren Umhang ab. Darunter trug sie das traditionelle Gewand einer Hathor-Priesterin, eine weiße Tunika mit Trägern, die ihre Brüste freiließ. Sie schmiegte sich an den zierlichen Leib der jungen Frau, die jetzt das Kohlebecken aufmachte. Die rotglühenden Kohlen verbreiteten ein geheimes Licht, das nur dem Himmel und den Augen der Göttin sichtbar war. Auf diesem bescheidenen Becken verstreute die Königin jetzt die Weihrauchkörner. Ihr Duft verflog in der Nachtluft allzu rasch, aber er erinnerte Nagsara an die heiligen Feste in Tanis, wenn der Pharao den zarten Duft aller Dinge zu dem verborgenen Gott, zu Amun, hochwolken ließ.
Der Mond schien ungewohnt hell und zeugte inmitten seines Sternenhofs für die Gegenwart der Himmelsgöttin.
«Höre mich an, Hathor», betete Nagsara und hob die Hände über dem Altar. «Mach, daß dein Zauber Salomos Seele übermannt. Mach, daß seine Augen mich betrachten und an mir hängenbleiben. Verjage die Tempelidee, die mir den Mann raubt, den ich liebe. Hathor, erhöre das Gebet deiner Dienerin. Mach, daß dein Licht die Finsternis vertreibt und mir neue Lebensfreude schenkt! Mach, daß Salomo mein fügsamer Diener wird und seine Gedanken nur noch mir gelten!»
Im Osten erschien der blutrote Schein der Morgenröte. Und Nagsara schöpfte neue Hoffnung.
Die Gerste stand sattgrün. Man war mitten im Monat März, und die Regenfälle waren nur noch ein böses Andenken. An den Berghängen entfalteten Blumen ihre purpurne Pracht und wetteiferten mit Tausenden von roten Anemonen, die die Felder zierten. Der Winter wich und machte Dutzenden von Narzissenarten, Hasenglöckchen und Tulpen Platz. Hiram war im Wald auf einem Krokusteppich aus Gelb gegangen, das so strahlend war, als stiege es aus der Sonne empor. Die Zeit war wieder gekommen, in der die Bauern sangen, die Turteltauben gurrten, die Feigenbäume die ersten Früchte trugen und der Weinberg, in dem Füchse herumschlichen, blühte.
Seitdem es nicht mehr regnete, ging der Oberbaumeister jeden Tag auf dem Land spazieren, betrachtete aufmerksam die Bäume, die hohen Wacholder, die Pistazienbäume, die gedrungenen Mandelbäume, die Sykomoren mit den saftigen Beeren, die Granatapfelbäume, deren Früchte die Fülle göttlichen Reichtums und die unerschöpflichen Gaben der Liebe symbolisierten. Vor Ölbäumen mit silbrigen Blättern, deren Besitzer ihnen eine sehr gute Pflege angedeihen ließen, blieb er stehen. Ergaben die Oliven nicht ein so kostbares Öl, daß es zur Zubereitung von Gerichten, von Arzneien und Dingen der Körperpflege verwendet wurde, dieses Öl, das in den Lampen brannte und von den Priestern geweiht wurde? Doch es war das Ölbaumholz, das den Baumeister interessierte, ein robustes Material, das Stämme von zwanzig Ellen Höhe und fünfhundert Jahren Alter lieferte. Der Baum drückte eine heitere Beschaulichkeit aus, wie sie Statuen haben sollten, eine Schönheit, die vielleicht an ägyptische Kunstwerke heranreichte. Hiram markierte die Ölbäume, die er haben wollte, mit Kreide. Die zweite einheimische Baumart, die er aussuchte, war die mächtige Zypresse mit dem harten Holz, das man wunderbar zu Fußbodenbelag verarbeiten konnte.
«Warum bist du so verbissen», beschwerte sich Kaleb, «du weißt ja noch nicht einmal, ob der Bau jemals angefangen wird? Der Tempel ist ein Trugbild, der Traum eines verrückten Königs. Diese Spaziergänge machen müde. Gefällt dir denn unser schönes Haus in Jerusalem nicht?»
Hiram gab darauf keine Antwort, sondern wählte weiter Stämme aus. Anup wich nicht von seiner Seite, sprang neben ihm her und ließ es nicht zu, daß der Hinkefuß seinem Herrn zu nahe kam. Er mißtraute Kaleb, und der wagte es nicht, ihn zu schlagen, aus Angst, er könne den Oberbaumeister verärgern.
Endlich kam der Morgen, den sich Kaleb herbeigewünscht hatte.
Als Hiram zu einem weiteren Spaziergang über die Schwelle trat, stieß er auf Scharen von Männern und Frauen, die nach Jerusalem hereinströmten. Es handelte sich um Hebräer aus den Provinzen, aber auch um babylonische Händler und asiatische Kaufleute. Reich und arm, alles war in der gleichen hellen Aufregung.
«Was geht hier vor?»
«Wir haben Passah, mein Fürst! Ganz Israel feiert. Die Gläubigen speisen und trinken zur höheren Ehre Gottes. Heute sind wir alle Gläubige!»
Hiram fand sich damit ab, daß er nicht in die Unterstadt gelangen würde, die Menge, die zum Palast strebte, war zu groß. Viele riefen: «Passah, Passah!» und erinnerten so an das Wunder des ‹Auszugs› der Kinder Israel aus Ägypten. Ob sie wohl wissen, dachte Hiram bei sich, daß sie da ein ägyptisches Wort aussprechen und damit dem Land huldigen, das sie verachten?
Bauern und Bäcker zogen gemeinsam dahin, die einen mit den ersten Ähren, die anderen mit dem ungesäuerten Brot. Metzger zogen Hunderte von Lämmern hinter sich her, die geopfert werden und Tausende von Gästen nähren sollten, die an dem riesigen Passahmahl teilnahmen, bei dem Wohlhabende und Bettler etliche Stunden lang nebeneinandersaßen.
Ein Priester ging an der Wohnung des Oberbaumeisters vorbei und bespritzte die Tür mit dem Blut des Tieres, das er gerade geschächtet hatte. Die warme und klebrige Flüssigkeit traf auch Hirams Gesicht und Brust.
Der Baumeister trat ins Haus zurück und wusch sich. Kaleb war verschwunden. Der Hinkefuß wollte bei der Verteilung von Wein, Brot und Fleisch nicht fehlen. Blieb nur noch der Hund, der die Menschenmenge genauso abscheulich fand wie sein Herr. Letzterer arbeitete an einem Plan, der in seinem Kopf allmählich Gestalt annahm. Er hatte sich vom Tempel von Edfu in Oberägypten inspirieren lassen, den Imhotep geschaffen hatte und dessen Zeichnung in den Archiven im Haus des Lebens aufbewahrt wurde.
Hiram wurde in seinen Gedanken durch Geschrei und Gehämmer auf die Tür gestört. Als er sie aufmachte, schob sich Kaleb mit dem Arm voller Lebensmittel ins Haus.
«Nimm am Passahfest teil, mein Fürst! Hier ist gebratenes Lamm mit Lorbeer und Basilikum, Matze mit Paprikasoße und Wein aus Samaria… sehr guter Wein, sehr…»
Sturzbetrunken sackte der Hinkefuß zusammen.
Hiram ließ ihn liegen.
Da die Gassen jetzt verlassen lagen, ging er mit dem Hund aus und schlängelte sich zwischen liegenden Leibern hindurch. Das Festmahl hatte zahlreiche Opfer gefordert, die erst nach mehreren Stunden totenähnlichen Schlafs wieder zu Bewußtsein kommen würden.
Anup bellte, warnte seinen Herrn vor einer drohenden Gefahr.
Ungefähr hundert Schritt vor ihm tauchte Banajas an der Spitze eines Trupps Soldaten auf. Die groben Züge des Generals strahlten so zufrieden, daß es nichts Gutes verhieß.
Hiram blieb wie angewurzelt stehen. Der Hund drückte sich an sein Bein. Banajas, der sich sein Schwert umgebunden hatte, redete den Fremdling mit rauher Stimme an.
«Meister Hiram, König Salomo fordert dich auf, unverzüglich vor ihm zu erscheinen.»
Kapitel 22
Salomo begrüsste Hiram im Audienzsaal, wo er auch fremdländische Würdenträger empfing. Der Herrscher saß auf seinem Thron und hatte eine strenge, fast feindselige Miene aufgesetzt.
Der Baumeister zeigte nicht das kleinste Anzeichen von Demut und blieb in einiger Entfernung stehen.
«Wer bist du in Wahrheit, Meister Hiram?»
«Ein Handwerker, der es in seinem Beruf weit gebracht hat.»
«Wie soll ich das glauben nach dem, was sich gerade getan hat? Wie könnte es ein schlichter Arbeiter wohl erreichen, daß die Königin von Saba mir eine Botschaft schickt und mir die baldige Ankunft einer Ladung Rotgold ankündigt?»