Salomo konnte seine Bewegung kaum verbergen. Den Zauberbüchern zufolge, die er zu Rate gezogen hatte, stimmte der von Hiram gewählte Platz mit der Pforte zu einer geheimen Welt überein. Hinter ihr begann ein Weg, der zu einem wassergefüllten Schlund führte, der die Mitte der Erde ausfüllte. Dort vereinigten sich die Geister der Toten, damit das Jenseits im Herzen des Hier anwesend war.
Der König war sich völlig sicher, daß das von Nagsara befragte Orakel nicht gelogen hatte. Wer anders als der vom Unsichtbaren auserkorene Baumeister hätte den Zufall im Griff haben können? Wer anders hätte genau im richtigen Augenblick so handeln können?
Salomo drehte den von Nathan geschenkten Rubinring an seinem Finger. Er richtete ein stummes Gebet an die Geister des Feuers, der Luft, des Wassers und der Erde, damit sie an der Erschaffung des Gebäudes genauso Teil hatten wie an der jedes Lebewesens. Er bat sie, Hüter auf der Schwelle des Heiligtums zu sein, es auf Dauer mit ihrer Gegenwart zu umgeben.
Hiram betrachtete den Gipfel des Felsens, der sein Schicksal werden sollte.
Salomo genoß die Freuden einer Geburt. Im vierten Jahr seiner Herrschaft würde man mit dem Bau des Tempels beginnen.
Kapitel 25
Salomos Zorn war so furchtbar, daß Elihap um sein Leben fürchtete, obwohl er sich des Vertrauens seines Gebieters sicher war. Noch nie hatte sich Israels König zu einem solchen Tobsuchtsanfall hinreißen lassen, denn das verdammten die Weisen. Unaufhörlich rief der Herrscher Jahwe als Rachegott an und versprach, die an Hirams Verschwinden Schuldigen zu bestrafen.
«Es gibt keine Schuldigen», protestierte der Schreiber schüchtern, als sich der König anscheinend beruhigte.
«Hiram ist unauffindbar, und niemand wäre daran schuld? Elihap, willst du dich über mich lustig machen?»
«Auf deinen Befehl hin haben Banajas und deine Elitesoldaten nach Hiram gesucht. Sie haben Häuser, Höhlen, Werkstätten und Speicher durchkämmt, aber nirgendwo eine Spur von ihm.»
«Und das Haus, in dem er gewohnt hat?»
«Leer.»
«Was sagen die Nachbarn aus?»
Elihap zögerte.
«Sprich», forderte Salomo.
«Sie haben Priester hineingehen sehen, die Gegenstände mitgenommen haben.»
Salomos eisiger Ton war genauso besorgniserregend.
«Der Hohepriester soll sich unverzüglich einfinden.»
Elihap beeilte sich, Zadok zu benachrichtigen.
Salomo durchmaß das Arbeitszimmer mit den schmalen Fenstern. Was ging in seiner Hauptstadt vor? Jetzt wartete er bereits drei Tage auf Hiram. Seit der heimlichen Zeremonie, mit der Fundamentlegung des Tempels hatte der Baumeister kein Lebenszeichen mehr gegeben. Ein übereilter Aufbruch war unvorstellbar. Hiram hatte durch diesen rituellen Akt sein Wort gegeben, daß er das von Salomo gewollte Unternehmen bis zum Ende durchführen würde. Der König kannte die Menschen so gut, daß er wußte, der Oberbaumeister würde seinen Schwur nicht brechen.
Wenn er nicht in den Palast kam, wurde er daran gehindert. Wie und von wem? Hoffentlich mußte er nicht das Schlimmste befürchten…
Salomo empfing den Hohenpriester Zadok, als dieser darum bat, vorgelassen zu werden. Elihap saß mit Tafel und Schreibbinse in der Ecke, weil er die Unterhaltung aufzeichnen wollte.
Der König scherte sich nicht weiter um die Gebote der Höflichkeit.
«Warum sind deine Priester in die Wohnung meines Oberbaumeisters eingedrungen?»
Zadok in seiner sehr beeindruckenden lila Robe lächelte abfällig.
«Dieser Hiram ist ein Ungläubiger, Majestät. Er widmet sich der Schwarzen Magie.»
«Hast du Beweise?»
«Der König muß sich mit meinem Wort begnügen. Ist es nicht besser, wenn wir diese finsteren Machenschaften vergessen? Wichtig ist doch nur, daß ein gefährlicher Mann entfernt worden ist, der den Ruhm Israels getrübt hätte.»
Salomo wurde blaß.
«Was hast du gegen Hiram unternommen?»
«Nichts, Majestät. Dieser Geisterbeschwörer ist ein Feigling. Meine Warnung hat ausgereicht, ihn in die Flucht zu schlagen.»
«Falls du gelogen hast, Hoherpriester, wirst du es bitter büßen.»
Zadok, der sich im Recht wähnte, verneigte sich. Der König würde rasch vergessen. Die zwanghafte Vorstellung, die ihm das Hirn vernebelte, würde sich verflüchtigen. Hiram und der Tempel würden nur noch wie ein schlechter Traum sein.
Salomo ging in den kleinen Garten hinunter, den seine Gemahlin am Ende eines Palastflügels angelegt hatte. Er mußte frische Luft schöpfen, dem Schraubstock entkommen, der ihn zermalmte. Wenn er sich mit den Priestern anlegte, würde er einen unterirdischen Aufstand auslösen, der seine Macht gefährdete. Seine Nachforschungen bezüglich Hirams Verschwinden hatten nichts ergeben. Bestand Gott hartnäckig darauf, die Pläne seines Königs zu durchkreuzen?
Nagsara, die auf bunten Polstern zwischen zwei winzigen Zypressen saß, spielte auf der tragbaren Harfe, die sie an ihre linke Schulter gelehnt hatte. Seit dem Orakel hatte der König jeden Abend ihr Lager geteilt. Hathors Zauber hatte ihr den Gemahl wiedergegeben.
Nagsara liebte ihn mehr und mehr, denn Salomo hatte nur gute Seiten. Schönheit und Klugheit vereinten sich in diesem Herrscher aufs vollkommenste, und er berechtigte zu den schönsten Hoffnungen. Nagsara war stolz darauf, seine Gemahlin zu sein, und wollte eine ergebene Dienerin werden, die glücklich war, wenn sie im Schatten dieses von den Göttern bevorzugten Herrschers leben durfte.
Die an seinen Zügen abzulesende Verärgerung machte auch Nagsara ärgerlich. Sie hörte auf zu spielen und kniete sich vor ihn.
«Darf ich deine Not lindern, Gebieter?»
«Kann dein Zauber einen Menschen wiederfinden, den man bereits verloren glaubt?»
«Vielleicht sollten wir die Flamme befragen… Aber das ist schwierig und scheitert oft.»
Nagsara zog Salomo in ihr Gemach und verdunkelte es.
«Hast du einen Gegenstand, der ihm gehört?»
«Nein.»
«In diesem Fall mußt du dir seine Züge vorstellen. Du mußt ihn sehen, als ob er vor dir stünde, und das unablässig.»
Nagsara entzündete eine Lampe. Sie fixierte die Flamme, bis sie geblendet, fast blind war.
«Sprich, Göttin aus Gold, hebe den Schleier, der meinen Blick verdunkelt. Laß meinen König nicht schmachten, quäle ihn nicht durch dein Schweigen. Entdecke ihm den Ort, wo sich der Mann verkriecht, den er sucht, zeige seine Umrisse in der Flamme.»
Nagsara hob flehend die Hände, dann verlor sie das Bewußtsein. Sie würde Salomo nicht gestehen, daß die Reisen in die Welt der übersinnlichen Kräfte ihr mehrere Lebensjahre raubten. Aber gab es ein größeres Glück, als sie dem zu opfern, den sie liebte?
Eine sonderbare Form zeichnete sich in der unwirklich hell gewordenen Flamme ab. Sie bestand aus miteinander verflochtenen Spiralen, alsdann wurde das Bild klarer, und man sah eine Art felsigen Schlupfwinkel.
«Eine Höhle», erkannte Salomo.
Anup warnte Hiram und Kaleb mit seinem Gebell vor nahenden Eindringlingen. Der Hinkefuß schnappte sich einen Metallpfahl und machte sich bereit.
«Ich hatte dich gewarnt, mein Fürst! Man läßt uns nicht in Ruhe.»
Der Baumeister fuhr fort, den Felsen zu polieren.
«Bist du da, Meister Hiram?» fragte General Banajas’ rauhe Stimme.
Der Baumeister trat aus der Höhle, die er sich zusammen mit Kaleb einrichtete. Sie befand sich in der Flanke eines Hanges außerhalb der Mauern und hatte sich als trocken erwiesen. Der Hinkefuß hatte Decken, Werkzeuge und Essen angeschleppt. Hiram hatte ihn an Stechbeitel und Schleifstein angelernt, aber Kalebs Hand ermüdete rasch. Seine Begabungen lagen eher im Kochen und Schlafen.