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Hiram grüßte den Wächter auf der Schwelle und trat durch den Umfassungszaun. Er ging an den Zelten vorbei, in denen sich die Gruppen der Zeitarbeiter aufhielten, die man für die Frondienste angefordert hatte. Auf die stille Leere würde schon bald wilder Aufruhr folgen. Das Lager endete in einer mit Gestrüpp bestandenen Gegend, wohin sich nur Füchse wagten.

Vor einem abgestorbenen Baum stand eine Frau in langem, weißem Gewand, der die schwarzen Haare auf die Schultern fielen.

«Ich bin Israels Königin», sagte Nagsara. «Und bin gekommen, weil ich deine Baustelle besuchen will, Meister Hiram.»

«Nur dieser Teil ist zugänglich, Majestät.»

«Warum dieser Zaun, warum diese Geheimniskrämerei?»

«So fordert es unsere Regel.»

«Und läßt die keine Ausnahme zu?»

«Keine.»

«Ich habe auch ein Geheimnis. Aber ich bin nicht so geizig wie du.»

In der blaurosigen Morgendämmerung meinte Hiram, eine schattenhafte Gestalt zu sehen, die sich hinter ein Zelt schlich. Da er keinerlei Geräusch hörte, handelte es sich wohl um eins der letzten Nachtgespenster, das ins Nichts zurückkehrte.

Nagsara trat ganz nahe an den Oberbaumeister heran. Sie entblößte ihre Kehle.

«Da, sieh», sagte sie. «Die Götter haben deinen Namen in mein Fleisch gebrannt. Warum? Welches Geheimnis hütest du, daß ich darunter leiden muß?»

Die Lettern leuchteten, als würde die weiße Haut der Königin von einem Feuer erhellt, das in ihren Adern rann. Hiram hatte die kleine Nagsara nur auf Festen gesehen, wenn der Pharao umgeben von seiner Familie vor das Volk trat. Jetzt entdeckte er eine junge Frau von zerbrechlichem Reiz, die wie er zur Verbannung verurteilt war, jedoch mit Salomo zusammenlebte, dem Mann, der einem ägyptischen König ebenbürtig war. Wen hätte diese entblößte Schönheit in der milden, morgendlichen Klarheit nicht beunruhigt, diese unwirkliche Vision einer Königin, die sich nicht scheute, ein Wunder vorzuzeigen.

Nagsara merkte, daß Hiram besorgt war. Sie bedeckte ihren Hals und legte die Hände auf die Brust des Oberbaumeisters.

«Mein Schicksal ist unauflöslich mit deinem verbunden», sagte sie. «Ich muß dieses Rätsel lösen. Weigerst du dich, mir zu helfen?»

«Die Götter mögen mich vor Feigheit bewahren.»

Nagsaras Handflächen waren weich. Hiram wünschte sich, der Augenblick möge länger dauern, doch die Königin wurde sich jählings ihrer Tollkühnheit bewußt und trat zurück.

«Wir sehen uns im Palast wieder. Israel hat viele Propheten. Einer von ihnen wird den Schleier lüften.»

Die weiße Gestalt schien sich in der Staubwolke aufzulösen, die der Wüstenwind aufwirbelte. Hiram schloß die Augen. Was hatte diese Erscheinung zu bedeuten? Bislang hatte er nur gegen Salomo und sich selbst kämpfen müssen. Der Tempel hatte Besitz von seiner Seele ergriffen und ihn die Außenwelt vergessen lassen. Nagsara erinnerte ihn an Liebschaften am Nilufer, in Papyrusdickichten, an leidenschaftliche Begegnungen in Palmenhainen, in denen zahme Affen von Baum zu Baum hüpften. So heiß, so kurz war seine Jugend gewesen…

Ein Schrei riß ihn aus seinen Träumereien.

Ein Mann kam aus seinem Versteck hinter einem Zelt hervorgesprungen und stürzte sich mit gezücktem Dolch auf die Königin. «Stirb, du unreine Hündin!» brüllte der Wahnsinnige.

Mit ein paar Schritten erreichte Hiram den Platz des Überfalls. Mühelos bändigte er den Verbrecher, einen schmächtigen Kerl, und schickte ihn mit einem Handkantenschlag auf den Hals zu Boden.

Blut rann am Hals der Königin hinunter. Ihre Augen waren glasig, und sie versuchte vergebens zu sprechen, ehe sie ohnmächtig wurde. Mit lauter Stimme rief Hiram die Lehrlinge herbei.

Ein trauriger Zug ging durch Jerusalems Straßen in Richtung Salomos Palast, Hiram mit einer jungen, bewußtlosen Frau auf den Armen, deren verlöschendes Leben er nicht retten konnte. Ihm folgten die Arbeiter, sie stießen den Mörder vor sich, der sie verwünschte.

Salomo hatte dem Hohenpriester gerade auseinandergesetzt, welche neuen Anordnungen er zur Finanzierung des Tempels getroffen hatte. Er hatte ihm mitgeteilt, daß auch die Priester, wie jeder Hebräer, den Zehnten ihrer natürlichen Reichtümer abgeben mußten, sei es nun das zehnte Mutterschaf einer Herde oder das zehnte Ei, das ein Huhn gelegt hatte. In dem in zwölf Provinzen aufgeteilten Königreich mußte der Reihe nach jede Provinz für die Bedürfnisse der Baustelle aufkommen.

Zadok protestierte energisch. Nur er allein konnte sich Salomo aufgrund seines Rangs und seiner Stellung noch widersetzen.

«Warum soviel Reichtümer verschwenden, nur um eine weitere Kapelle zu bauen? Jahwe ist zufrieden mit der Unterkunft, die wir ihm gegeben haben. Maßlosigkeit mißfällt ihm.»

«Der Tempel ist keine Kapelle und keine königliche Laune», entgegnete Salomo. «Er soll der heilige Mittelpunkt unseres Landes werden, denn er wahrt Gottes Anwesenheit auf dieser Erde und den Frieden unter den Völkern. Um dieses Heiligtum herum entsteht die Einheit Israels.»

«Dann ist es also wahr?» fragte Zadok spöttisch, «daß Gott hier unten wohnt?»

«Wer wagt es zu behaupten, daß der König der Hebräer solch ketzerische Worte verkündet? Er, für den der Himmel zu groß ist, bleibt für uns unsichtbar, aber Seine Strahlen, Er selbst, sind sichtbar. Es ist Seine Gegenwart, nicht Er Selbst, der in einer neuen Wohnstatt wohnen wird.»

«Ist das nicht eine Lehre der Ägypter?»

«Widerspricht sie unserem Glauben, Zadok? Manifestiert sich der Eine Gott nicht im Werk der Erbauer, das Er mit Seinem Licht krönen wird?»

Der Hohepriester schmollte. Er glaubte nicht, daß sich Salomo auch auf dem Gebiet der Theologie auskannte, wechselte jedoch zu einem anderen Schlachtfeld.

«Das Volk wird es nicht hinnehmen, wenn man es so schwer belastet. Es wird sich erheben.»

«Der Tempel steht als Materie für die geistige Ordnung, die in unserem Land herrscht», wies ihn der Herrscher zurecht. «Das Herz des Volkes und das des Tempels schlagen im gleichen Takt. Das Volk wird sehen, wie seine Mühe in etwas anderes verwandelt wird. Es wird wissen, daß jede noch so kleinste Steuer im Tempel zu Stein geworden ist, daß das himmlische Jerusalem vom HERRN neu erbaut worden ist. Bis zum Kidron hin sind ihm alle Äcker geweiht. Die können niemals mehr geplündert oder vernichtet werden. Denn der Auftrag des Tempels lautet, Frieden zu verkünden.»

«Wird es dem Heer nicht an Geld fehlen?»

«Ein Hohepriester, der sich in Strategie einmischt? Unser Heer ist stark, es gewährleistet unsere Sicherheit. Aber wir stürzen uns nicht länger in verheerende Kriege. Davor bewahrt uns der Tempel.»

Zadok gingen die Argumente aus, und als er sich dem Projekt Salomos gerade strikt verweigern wollte, platzte der Schreiber Elihap in den Thronsaal.

«Gebieter… ein schändliches Verbrechen…»

Hiram, der Nagsaras Mörder am Hals gepackt hielt, schleuderte diesen auf die Fliesen.

«Das ist der Elende, der versucht hat, Israels Königin zu töten.»

Der Mann warf einen flehenden Blick in Zadoks Richtung, ehe er das Gesicht mit den Händen verdeckte. Doch Salomo hatte ihn bereits erkannt.

«Ist dieser Verbrecher nicht Priester? Gehört er nicht zu den Ritualisten?»

Zadok stritt nichts ab. Sein Helfer weinte.

«Ich ziehe mich zurück», sagte Hiram. «Richten ist Sache des Königs.»

Salomo erhob sich.

«Die Königin…»

«Deine Ärzte versuchen, sie zu retten. Mich ruft die Baustelle.»

Der König wandte sich an Zadok.

«Jetzt kannst du nicht mehr im mindesten protestieren, Hoherpriester. Versieh dein geistliches Amt und wache besser über die Rechtschaffenheit deiner Untergebenen.»