«Du bist kein Arbeiter. Wie bist du hierhergekommen?»
Der Priester wirkte verlegen.
«Das ist nicht weiter wichtig», meinte Zadok.
«Im Gegenteil», erwiderte Hiram. «Wie will man richten, wenn man nicht die ganze Wahrheit kennt?»
«Sprich, Hoherpriester», forderte Salomo.
«Das Wort von Jahwes Diener darf niemand anzweifeln. Diesem Priester ist es gelungen, Zutritt zur Baustelle zu bekommen und den Beweis für die Gotteslästerung zu finden. Der Baumeister will lediglich Salomos Urteil hinauszögern.»
«Eine Lüge», meinte Hiram. «Niemand kommt durch das Tor zur Baustelle, außer mit Genehmigung des Wächters vor der Schwelle. Er möge vor dieser Versammlung erscheinen.»
«Unnütz», protestierte der Hohepriester.
«Es sei», sagte Salomo.
Der Wächter der Schwelle, ein betagter Mann, näherte sich zögernden Schrittes.
«Hast du diesen Priester vorbeigelassen?» fragte Hiram.
Der Wächter der Schwelle warf sich dem Oberbaumeister zu Füßen.
«Ich habe den Silberschekel genommen, den er mir angeboten hat. Er ist nicht lange geblieben… vergangene Nacht…»
«Macht nichts!» fuhr Zadok dazwischen. «Die Amulette sind vorhanden!»
Hiram ging bis zum Fuß des Throns.
«Welcher Richter würde Beweise akzeptieren, die man durch Bestechung erhalten hat?»
Zadok griff ein.
«Majestät, höre nicht auf…»
«Es reicht», sagte Salomo. «Israels König befleckt nicht die Gerechtigkeit, für die er einsteht. Dieser Prozeß kann nicht stattfinden. Die, die versucht haben, mich bloßzustellen, werden es noch bereuen.»
Der Hohepriester wagte nicht, etwas gegen das Urteil des Herrschers einzuwenden.
«Das Geschehene ist bedauerlich», fuhr der König fort. «Aber es wird nicht wieder vorkommen. Wer den Zaun der Baustelle ohne Meister Hirams Erlaubnis durchbricht, dem wird der Fuß abgehackt.»
Und das Wort des Königs wurde Gesetz.
Nagsara in ihrem Garten hörte den Lärm, der von der Unterstadt und dem riesigen Zeltlager hochstieg, in dem Hunderte von Fronarbeitern wohnten. Jetzt, da sie außer Lebensgefahr war, erholte sich die Königin langsam von ihrer Verletzung. In dem Maße, wie ihre Genesung Fortschritte machte, schränkte Salomo seine Besuche ein. Das Leben stellte sich als bitterer heraus als die Krankheit. Mit zunehmender Gesundheit entfernte sie sich von ihrem Gebieter. Wie ganz Israel sorgte sich Salomo nur um den zukünftigen Tempel und vergaß die Liebe einer jungen Ägypterin mit allzu fiebrigen Augen.
Dennoch war sich Nagsara sicher, daß Salomo sie noch immer leidenschaftlich liebte. Sie würde weiterhin gegen diesen Rivalen kämpfen, der immer stärker wurde, gegen dieses Heiligtum eines Gottes, der eifersüchtig über sein Alleinrecht wachte. Sie, eine Fremdländerin, trotzte diesem Symbol von Israels Ruhm. Sie, ein Wesen aus Fleisch und Blut, widersetzte sich einem Leib aus Stein.
Mehrfach hatte Nagsara die Flamme befragt, weil sie etwas über ihr eigenes Schicksal erfahren wollte. Doch sie hatte nur vage Schatten sehen können, so als ob die Göttin Hathor sich weigerte, ihr den Schlüssel zur Zukunft zu geben. Aber die Königin ließ nicht locker.
Salomo sollte ihr gegenüber nicht gleichgültig werden. Wie hoch auch immer der Preis, sie würde hier und im Jenseits fest zu ihrem König stehen.
Kapitel 29
Der Vollmond zur Frühlings-Tagundnachtgleiche hatte wie in jedem Jahr das Passahfest eingeleitet. Mehr als hunderttausend Menschen aus den Provinzen hatten ihre Städte und Dörfer verlassen und sich nach Jerusalem begeben, um sich die Baustelle des berühmten Meister Hiram anzusehen. Die Pilger strömten durch Gassen und Gäßchen und warfen nur einen flüchtigen Blick auf die dicken Mauern und den alten Palast König Davids. Der Felsen, die neue Zufahrtsstraße, das Zeltlager und der Bauzaun, der die kundigen Handwerker von der Außenwelt abschirmte, erregten ihre Neugier.
Tausendundein Gerücht machte die Runde. Jeder wußte mehr als der Nachbar, kannte einen Teil von Hirams Geheimplan, beschrieb das zukünftige Gebäude und die Geheimriten, die im Inneren des Zauns gefeiert wurden. Kein Schaulustiger, der nicht wußte, was Salomo vorhatte, kein Spaziergänger, der nicht einen Schüler Meister Hirams kannte, der ihm die vielen Rätsel erklärt hatte. Darüber wurde vergessen, daß man mit Passah Moses’ Heldentat feierte, der sein Volk vor der Verfolgung gerettet und es aus Ägypten geführt hatte. Man dachte nicht mehr daran, daß der Racheengel allgegenwärtig war und die Gottlosen bedrohte. Setzte sich das ganze Land nicht mit einem noch unsichtbaren Tempel gleich, so schön und prächtig, wie ihn noch kein König ersonnen hatte?
Gebete stiegen zu Jahwe hoch. Lämmer wurden geschächtet, ihr Blut wurde auf Haustüren gespritzt, der Duft von brutzelndem Fleisch durchströmte die Hauptstadt. «Gelobt sei der Name des HERRN, denn Er ist sehr freundlich», sangen die Gläubigen bei den Festmählern, «Ehre sei Dir und nicht uns!»
Königin Nagsara, die noch immer schwach war, hatte nur zu Beginn an den Zeremonien teilgenommen, die im weiteren Verlauf weit weniger ausgelassen waren.
In Windeseile hatte sich eine furchtbare Kunde verbreitet: Meister Hiram wollte Gottes Tempel nun doch nicht bauen. Und in der Tat saß Salomo beim Fest allein, wo doch jedermann den Baumeister an seiner Seite erwartet hätte. Man suchte Hiram überall, konnte ihn aber nirgends erblicken, denn die Baustelle war über Passah geschlossen. Arbeiter bestätigten, daß er sich nicht in der Zeichenwerkstatt versteckte.
Die strahlende Miene des Hohenpriesters, den der König gemäß der Sitte ehrte, bestätigte die schlimmsten Befürchtungen. Die kleinen Leute und der Adel wußten um den Haß, den Zadok gegen Meister Hiram hegte. Zweifellos hatte er seine Abreise erreicht. Und da Salomo sein Scheitern nicht eingestehen wollte, versteckte er es hinter Schweigen. Die Fronarbeiter würden einer nach dem anderen nach Hause geschickt werden, die Handwerker würden in ihre Provinzen zurückkehren, der Bauzaun würde in wenigen Monaten abgebaut sein oder an Ort und Stelle vermodern. Und der Felsen würde Jerusalem weiterhin mit seiner Kahlheit herausfordern.
Während die Becher der Zecher kreisten und von Hand zu Hand gingen, konnte es keinen Zweifel mehr geben: Meister Hiram hatte die Baustelle verlassen, war den Drohungen der Priester gewichen. Zweifellos war er nach Tyros zurückgekehrt.
Die Propheten, die vorhergesagt hatten, daß kein König die Stadt Davids verändern würde, hatten recht gehabt.
Die alte Ordnung triumphierte.
Hiram ging durch ein heranreifendes Feld. In der Nähe schwangen Bauern Sicheln, die mit ihren gezackten Klingen durch grünes Gras fuhren.
Anup sprang vor Hiram her und freute sich an der strahlenden Frühlingsluft. Am anderen Ende des Feldes lagen Ähren auf einer Tenne, die geduldige Ochsen festgestampft hatten. Auf einer Anhöhe errichtet, war die Tenne schon von weitem sichtbar. Bauern machten mit Stacheln besetzte Dreschflegel zum Dreschen bereit, die dann einen Haufen goldener Körner, Spreu und Stroh zurückließen. Kornschwinger schärften die Spitzen ihrer Gabeln, mit denen sie das Gemisch in die Luft warfen und es der Brise überließen, die Spreu vom Korn zu trennen. Das Stroh flog fort, und auf der Tenne häufte sich das durch den Luftgeist gereinigte Korn. Das lagerten die Bauern unter ihrem Dach, wo es vor Regen und Dieben, Tieren oder Herumtreibern sicher war.
Meister Hiram folgte seinem Hund und kam an der Tenne vorbei, wo die Tage in ewigem Gleichmaß verliefen. Er durchquerte den Garten voller Feldblumen und kam zu dem Häuschen, das er seit einigen Tagen bewohnte. Aus dem Keller, der neben dem Haus gegraben war, holte er sich einen Schlauch frisches Wasser und einen mit Wein. Alsdann röstete er auf einem Ofen im Freien Getreidekörner und buk sich ein Brot aus feinstem Mehl, das er mit Kümmel würzte, und Honigküchlein. Anup trank und fraß gierig. Hiram setzte sich unter einen Feigenbaum und verspeiste dort sein Mahl.