Am Ende von fünf Tagen und fünf Nächten des Lernens besaßen die Gesellen ein Wissen, das ihr Begriffsvermögen überstieg, aber sie waren Meister Hiram so dankbar, daß ihnen die Worte fehlten. Die Bruderschaft, die sie mit ihm verband, strahlte wie die Sommersonne.
Der Baumeister kam Schritt für Schritt auf seinem Weg weiter. Die Baustelle zu organisieren, die Menschen anzulernen, die Geburt des Gebäudes vorzubereiten, all das waren Zwischenstufen des Plans, den er unter allen Umständen selbst in der Hand behalten mußte. Hoffentlich hatte er sich nicht in den Gesellen getäuscht, denen er vertraute. Doch wer konnte sich rühmen, das menschliche Herz so gut zu kennen wie das steinerne?
Die zu Frondiensten gerufenen Hilfsarbeiter erhielten ihren Lohn am Ende einer Arbeitswoche. Anders war es bei den Gesellen und den Lehrlingen, die beim Neumondfest innerhalb des Bauzauns vor der Tür der Zeichenwerkstatt ein Gehalt bekamen. Die Lehrlinge bildeten eine erste, schweigsame Schlange, die Gesellen eine zweite. Einer nach dem anderen traten sie vor Hiram und flüsterten ihm das Erkennungswort ins Ohr, das ihrem Grad entsprach. Das Kennwort änderte der Oberbaumeister mehrere Male im Monat, damit niemand auf Betrug sann. Er zahlte sie in Gold- und Silberstücken aus, und die holte er aus Schatullen, die von Salomos Leibwache auf die Baustelle gebracht wurden.
Hiram hielt daran fest, diese Aufgabe selbst vorzunehmen, damit es nicht zu unrechtmäßigen Forderungen oder Ungerechtigkeiten kam. Jedes Mitglied der Bruderschaft erhielt eine andere Summe, die der Qualität und dem Eifer bei der geleisteten Arbeit während einer Mondumlaufzeit entsprach. Wer sich benachteiligt fühlte, hatte das Recht, beim Baumeister Einspruch zu erheben.
Wenn das abgewickelt war, stieg Hiram mit einer Fackel in der Hand in die Tiefe des Steinbruchs. Dort schlug er eigenhändig einen unterirdischen Saal aus dem Herz des Felsens heraus. Er arbeitete bis zur Erschöpfung, gestattete aber niemandem Zutritt zu diesem geheimen Ort, dessen Bestimmung niemand als er allein kannte.
Wann würde er ihn gebrauchen können?
Nagsara zog sich ein hellgelbes Gewand an und schlang einen vergoldeten Gürtel um die Taille, der ihre zarte Gestalt noch betonte. Sie hatte sich die Fingernägel dunkelgolden bemalt. An den Füßen trug sie weiße Ledersandalen mit eleganten Riemen und Sohlen aus Palmenrinde. An ihrem Gewand hingen Seidenbänder. An den Handgelenken der Herrscherin prangten Goldreifen, an ihren Fingern Ringe aus massivem Silber.
So geschmückt verließ Israels Königin den Palast um die Mittagsstunde. Diener umringten sie, boten ihr einen Tragsessel an, doch Nagsara lehnte ab. Sie schob die Leibwache beiseite und verlangte, allein gelassen zu werden.
Die Sonne gleißte. Ohne Hast schlug sie den steilen Weg zum Zaun ein, der den Zutritt zu der großen Zufahrt verwehrte, die zum Felsen führte und Materialtransporten vorbehalten war. Es war Sabbat, und niemand arbeitete. Ein Bildhauerlehrling und ein von Banajas dazu bestimmter Soldat saßen an einen Kalksteinblock gelehnt und hinderten jeden am Weitergehen.
«Geht fort», befahl Nagsara.
Der Soldat und der Arbeiter standen auf. Ersterer hatte die Königin erkannt.
«Mit Verlaub, Majestät… das geht nicht.»
«Wollt ihr lieber sterben, weil ihr eure Herrscherin beleidigt habt?»
Der Lehrling ergriff eiligst die Flucht. Der Soldat wurde angesichts von Nagsaras Entschlossenheit wankend. Galten die von Salomo erlassenen Vorschriften auch für seine Gemahlin?
Vor Nagsara erstreckte sich eine weite, nivellierte Ebene. Zum ersten Mal hatte man den Felsen gezähmt. Doch noch keine Spur von Fundamenten. Nichts als nackter Stein, auf den die Sonne prallte. Hatte der Baumeister wirklich vor, hier einen Tempel zu bauen? Täuschte er Salomo nicht, wenn er ihm ein Wunderwerk versprach, das er dann doch nicht in die Tat umsetzen konnte? Gewiß, hier war eine Schlucht aufgefüllt worden, aber war das schon für einen Werkmeister ein Kinderspiel gewesen? Zweifel packte das Herz der jungen Frau. Lief ihr Mann in eine Sackgasse hinein, ließ er sich von einer Eitelkeit blenden, die er für den Willen Gottes hielt?
Einerlei. Salomo handelte nach seinem Willen. Nagsaras Wille war nicht auf Jahwes Heiligtum gerichtet. Sie wünschte sich nur, daß der König glücklich war, daß sein strahlendes Antlitz die Jahre, die sie an seiner Seite verbrachte, erhellen würde.
Eine Ägypterin, die von Magi unterwiesen worden war, nahm ein widriges Geschick nicht einfach hin. Sie änderte seine Beschaffenheit. Wehrlos dulden war dumm und feige. Nagsara mußte diesen Tempel im Entstehen ersticken, Salomo diese Besessenheit ausreden und ihn wieder zu ihr zurückführen. Mit Liebesspielen und der Glut ihrer Leidenschaft würde sie ihn zu halten wissen.
Sie ging bis zum äußersten Rand des Felsens gegenüber der Stadt Davids und sah zu ihrer Rechten das Kidron-Tal und in der Ferne die Ebenen von Samaria. Die Schönheit des israelitischen Frühlings gemahnte sie schmerzlich an den ägyptischen. Um diese Jahreszeit pflegte die junge Prinzessin mit dem Boot die von Tamarisken gesäumten Kanäle von Tanis zu befahren. Sie ruderte selbst und hatte ihren Spaß daran, ganze Entenfamilien zu verfolgen. Abends lauschte sie auf Inselchen in dort aufgestellten Zelten der Musik von Flöte und Harfe, die Hofmusikanten spielten.
Hier, in dieser wilden Einsamkeit, vernahm sie die unmelodische Musik der Natur. Israel war noch zu jung, ihm fehlte die Weisheit, die nur Jahrhunderte verleihen konnten. Die Hebräer besaßen die Begeisterung eines unerfahrenen Volkes und wußten noch nichts von der gelassenen Haltung der alten Schreiber mit dem runden Bauch, die den Papyrus auf ihren Knien entrollten, auf dem ewige Worte geschrieben standen. Das Scheitern von Hirams Bau würde das Volk Demut lehren.
Ein Block, der säuberlich aus der Leere emporragte, erregte die Aufmerksamkeit der Königin. Er trug ein Steinbruchzeichen, das dem Henkelkreuz sehr ähnlich sah. Zweifellos hatte sich einer der Arbeiter in Ägypten aufgehalten. An dieser Stelle hätte man eher Salomos Siegel, die beiden gekreuzten Dreiecke, erwartet, die einem Werk Fortbestand sicherten. Die Sprache der Bruderschaft war nur ihnen allein bekannt, doch sie würde sich dem Zauber einer Königin gewaltlos widersetzen.
Nagsara nahm Ringe und Armreifen ab. Sie breitete sie im Kreis vor sich aus. Dann streifte sie Sandalen und Gürtel ab und legte daraus einen zweiten Kreis um den ersten herum. Sie kniete sich hin, breitete die Arme aus und rief die Winde der vier Windrichtungen an, daß sie den Felsen verwitterten und sie dazu verurteilten, unfruchtbar zu sterben. Als Opfergabe warf sie die Kleinode ins Leere. Um den beschworenen Zauber zu besiegeln, verflocht sie Sandalenriemen und Gürtel zu einem Seil, das ihre Gedanken mit denen der Göttin Sechmet verband.