Vergebliche Liebesmüh, falls Salomo ihr weiter fernblieb. Nagsara kannte den Preis ihres Tuns. Sie überließ Sechmet, der furchteinflößenden, blutgierigen Löwin, mehrere Jahre ihres Lebens. Doch eine alte Frau konnte Salomos Liebe auch nicht erringen, oder? War da nicht ein kurzes und leidenschaftliches Leben besser, das sich im Feuer einer wahnwitzigen Liebe verzehrte?
Nagsara zog das gelbe Gewand aus und breitete es auf dem Zauberseil aus. Nackt stand sie in der prallen Sonne und mußte nun nur noch ihr Blut vergießen.
Liebkosend fuhren ihre Finger über den Dolch mit dem silbernen Griff, der aus der Schatzkammer von Tanis stammte. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie damit die Übergriffe eines gräßlichen Königs abwehrte, den sie verabscheuen würde… und nun wurde er zu einem Werkzeug der Liebe, zum blutigen Sonnenstrahl.
Nagsara ertrug es nicht, daß der Name Hiram in ihrem Fleisch eingebrannt stand. Wenn sie ihn mit der Klinge durchtrennte, die Buchstaben in rote Tränen verwandelte, befreite sie sich von der Verhexung, die Salomo daran hinderte, sie zu lieben.
Sie stieß zu.
Der Dolch fuhr ins Fleisch und zog eine brennende Wunde auf ihrer Haut. Ein bräunlicher Nebel trübte den Blick der Königin.
Sie hörte, wie jemand ihren Namen rief. Jemand am anderen Ende des Felsens rief sie an. Jemand flehte sie an, sich nicht umzubringen.
Noch hatte sie Zeit, das Opfer zu sein, dessen Salomo in Liebe gedachte, aber sie zitterte. Der Nebel wurde dichter. Eine Hand ergriff ihren Dolch und zwang sie, die Waffe loszulassen.
Hiram hob das gelbe Gewand auf und zog es Nagsara über. Das Seil stieß er mit dem Fuß in den Abgrund.
«Nein», begehrte die Königin matt auf. «Du hast kein Recht…»
«Niemand verhindert das Entstehen des Tempels. Nur der himmlische Wille ist stärker als meiner. Ich werde den Zauber aufheben.»
Die Königin legte den Kopf in den Nacken und genoß aufs neue ein Leben, das ihr fast entflohen wäre.
«Wer bist du, Meister Hiram? Warum meißelst du ein ägyptisches Zeichen auf die Fundamentsteine des Tempels?»
«Dieses Zeichen hättest du nicht sehen sollen, Majestät.»
«Muß sich ein Baumeister nicht der Wirklichkeit stellen? Und falls du ein Verräter bist, falls du Salomo täuschst…»
«Komm, Majestät. Die Zauberei hat dich erschöpft.»
«Weigerst du dich, mir zu antworten?»
«Es ist mir einerlei, was man von mir denkt.»
Blut tränkte den zarten, gelben Stoff. Der Nebel, der der jungen Frau den Blick trübte, wurde dichter. Sie erkannte Hiram nicht mehr.
Der Abgrund war so nahe, so verlockend… Wenn sie alle Kraft zusammennahm, waren es nur noch wenige Schritte, und alle Not war vergessen.
«Du bist Ägypterin», ermahnte sie der Oberbaumeister.
«Dir ist Selbstmord verboten. Wenn du das tust, verlierst du deine Seele und auf ewig Salomos Liebe.»
«Wie… wie kannst du es wagen…» Hiram stützte die Königin, half ihr beim Gehen. «Man muß sich um deine Wunde kümmern, Majestät.» Die Berührung dieses Mannes mit der majestätischen Kraft beunruhigte sie.
«Ich will wissen, Oberbaumeister, ich will wissen, warum…»
«Wir sind nur Spielzeuge des Unsichtbaren. Der Rest ist Schweigen.»
Hiram begleitete Nagsara zum Palast. Ein seltsamer Friede hatte Besitz von ihr ergriffen. Die Wunde brannte nicht mehr, doch das Geheimnis blieb und war unerträglich. Der Baumeister kam ihr zugleich nah und fern vor, zärtlich und gefühllos. Welchem Zauber entstammte er?
Kapitel 31
Salomo war unzufrieden, denn er war gezwungen gewesen, der Bitte des Hohenpriesters nachzugeben und den Thronrat einzuberufen, der aus Zadok selbst, General Banajas und Elihap, dem Schreiber des Königs, bestand. Der israelitische Herrscher hatte gespürt, wie seine Gereiztheit zunahm, während er den Vorschlägen des Geistlichen zuhörte.
«Majestät, ich wiederhole es noch einmal», beharrte Zadok, «Meister Hiram wird zur Gefahr. Er hat ohne dein Wissen den Oberbefehl über Tausende von Arbeitern an sich gerissen.»
«Ist der Frondienst nicht Jerobeams Verantwortung?»
Der Hohepriester wurde bissig.
«Ein weiterer Trugschluß! Selbst bei den Hilfsarbeitern ist Hirams Ruf sehr groß. Sie gehorchen Jerobeam, aber sie bewundern Hiram. Weißt du denn nicht, daß er eine eigene Bruderschaft gegründet hat, zu der Lehrlinge und Gesellen gehören, die ihm wie Sklaven ergeben sind? Du selbst, Majestät, hast es hingenommen, daß die Baustelle des Tempels ihre eigenen Gesetze hat.»
«Soll das ein Vorwurf sein, Zadok?»
Der Hohepriester senkte die Stimme.
«Meister Hiram dehnt sein Reich Tag für Tag aus. Demnächst befehligt er ein Heer, das zahlreicher ist als das von Banajas.»
Der General schüttelte den Kopf. Seine barsche Miene verriet seine gereizte Stimmung.
«Ein friedliches Heer», erklärte Salomo.
«Das bezweifeln wir, Majestät. Sie sind mit Werkzeugen bewaffnet, die viele von ihnen jetzt sehr geschickt handhaben können. Falls sich ihr Herr zum Aufstand entschließt… Wir haben den Einfluß dieses Hiram unterschätzt. Ist er heute nicht schon der mächtigste Mann in Israel?»
«Du beleidigst den König, Hoherpriester!»
Zadok ließ nicht locker.
«Warum lassen wir diesen fremdländischen Baumeister nicht besser überwachen? Warum gestehen wir ihm so viele Vorrechte zu? Ich spreche im Interesse Israels und seines Herrschers. Ist Hirams Ruf nicht wahrhaft eine Beleidigung?»
«Der Hohepriester hat recht», knurrte Banajas. «Dieser Tyrer gefällt mir nicht.»
Elihap schwieg sich aus. Doch Salomo kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß er mit seinem Schweigen die beiden anderen Ratsmitglieder unterstützte.
«Du mußt handeln», forderte Zadok. «Jerobeam würde einen hervorragenden Baumeister abgeben.»
«Er hat bislang nur Pferdeställe und Befestigungen gebaut.»
«Er ist ein treuer Diener, dessen Berufung der Thronrat unterstützt.»
Zadok hatte sich zwar zu düsterer Leidenschaft hinreißen lassen, doch seine Argumente waren durchaus stichhaltig. Salomo mußte zugeben, daß seine Begeisterung ihn gewisse Gefahren hatte übersehen lassen. Vielleicht hatte er Meister Hirams Ehrgeiz und seinen Wunsch unterschätzt, allein durch sein Amt die Zügel der israelitischen Wirtschaft an sich zu reißen. Vielleicht hatte er einen Drachen am Busen genährt, der sich anschickte, ihn zu verschlingen.
Als Zadok merkte, daß der König nachdachte, verspürte er unendliche Genugtuung. Er hatte sich auf ein gefährliches Spiel eingelassen, erhoffte sich jedoch einen guten Ausgang. Wenn es ihm weiterhin gelang, Salomo zu beeinflussen, würde er dann nicht auch den Tempelbau verhindern können?
«In Israel regiert nicht der Thronrat», sagte Salomo schließlich. «Seine Rolle besteht darin, Vorschläge zu unterbreiten. Die kann der König annehmen oder ablehnen. Was nun Meister Hiram angeht, so bleibt er Baumeister des Tempels und ist nur mir verantwortlich.»
Salomo verbrachte die Nacht mit Grübeleien und ließ seinen Besuch bei Nagsara ausfallen. Die Königin, deren Wunde fast geheilt war, litt unter einer Sehnsucht, die nur die Anwesenheit des Königs stillen konnte. Und er reagierte auf ihre zarte Schönheit, genoß ihre Umarmungen und ihre leidenschaftlichen Küsse. Doch nach der stürmischen Sitzung, auf der er den Rat seiner Berater in den Wind geschlagen hatte, erschienen ihm die Freuden der Liebe fade und eitel. Daher hatte er sich in Davids Sterbezimmer zurückgezogen, das seit dessen Tod niemand mehr betreten hatte.