«Das hier sind die Instrumente der Meister», teilte er ihnen mit. «Mit ihnen berechnet ihr die Proportionen des Tempels. Ich lehre euch die heiligen Zahlen, aus denen die Natur in jedem Augenblick erschaffen wird und deren Geheimnis durch die behauenen Steine weitergegeben wird. Aber vorher müßt ihr für diese Welt sterben.»
Einige sträubten sich, denn sie waren allesamt junge Männer, die nicht die geringste Lust hatten, die Welt zu verlassen.
«Hat einer von euch Angst?»
Jeder ging in sich. Sie waren von Furcht gepeinigt, doch das Verlangen, in neue Geheimnisse eingeführt zu werden, war stärker.
Hiram bot jedem Gesellen einen Becher Wein an.
«Wenn ihr würdig seid, wird euch dieses Getränk die Kraft geben, alle Prüfungen zu bestehen. Wenn ihr jedoch gelogen habt, wenn ihr verraten habt, wenn euer Wort nicht wahr ist, sterbt ihr augenblicklich.»
Die Hände, die den Becher entgegennahmen, zitterten, doch keiner lehnte ab.
«Trinkt», befahl Hiram.
Die Gesellen gehorchten mit zugeschnürter Kehle. Einer von ihnen verspürte ein heftiges Brennen in der Brust. Er hatte bereits einen schrecklichen Tod vor Augen, doch das Unbehagen verflog. Seine Gefährten standen noch alle. Sie musterten sich gegenseitig und waren froh, dieses Hindernis überwunden zu haben.
«Streckt euch auf dem Boden aus und richtet den Blick auf das Steingewölbe.»
Hiram zog den Gesellen die Schürze aus und bedeckte ihre Augen.
«Ihr gehört nicht mehr zur Welt der gewöhnlichen Menschen. In euch bekämpfen sich jetzt Leben und Tod, damit der Tod sterben und das Leben siegen kann. Eure Vergangenheit ist nicht mehr. Ihr gehört dem zukünftigen Tempel. Ihr seid die Diener des großen Werkes. Kein anderer Meister kann euch sein Gesetz aufzwingen. Gemäß den Regeln der Bruderschaft bin ich euer Hüter, ich lehre euch die Kunst.»
Hiram legte den Stab auf die Körper der Liegenden und beschrieb von Kopf bis Fuß die Achse, um die herum sich ihr Leben von nun an drehen würde. Der Baumeister gab die Einführung weiter, die auch er erhalten hatte. Er hatte am eigenen Leib die Kraft dieser Oberbaumeister-Regel erfahren, in welche die Proportionen eingeschrieben waren, nach denen der Tempel wie ein lebendiges Wesen erschaffen wurde.
Eine angenehme Benommenheit ergriff die Gesellen. Es war kein Schlaf, sondern eine heitere Ekstase, die von einer golden glänzenden Sonne erhellt wurde, die über der Höhlendecke leuchtete. Und die war auch kein steinernes Hindernis mehr, sondern ein Sternenhimmel, an dem mitten in der Nacht das Tagesgestirn leuchtete. Den Schülern war unendlich wohl. Sie hatten den Eindruck, als stünden sie neben sich, als hätten sie die Last ihres Körpers abgestreift. Und sie hörten Hirams Stimme, wie er ihnen die Geheimnisse und Pflichten eines Baumeisters enthüllte.
Als die Gesellen von dieser Durchquerung farbenprächtiger Weltenräume zurückkehrten, besaßen sie das Alter der geometrischen Tradition früherer Baumeister und die Jugend von Eroberern.
Hiram hob sie der Reihe nach auf.
«Das Maß von Salomos Tempel», so sagte er ihnen, «ist die Elle, die von meinem Ellenbogen bis zur Spitze meines Mittelfingers reicht. Danach berechnet ihr die Proportionen.»
Hiram überreichte den neuen Baumeistern ein Meßrohr mit der Elle, die für sie der Schlüssel zur Errichtung des Gebäudes sein sollte.
«Haben wir den Tod durchquert?» fragte einer der Schüler.
«Der persönliche Ehrgeiz ist in euch erloschen», sagte der Oberbaumeister. «Von nun an arbeitet ihr an meiner Seite und unter meinem Befehl und verwandelt die Materie in lichten Stein. Was in euch gestorben ist, das sind eure vergänglichen Seiten, eure Selbstsucht, eure Kleinlichkeit. Von nun an habt ihr das Amt des Werkmeisters und unterrichtet Gesellen und Lehrlinge. Und ihr werdet die Baustelle überwachen und die Fronarbeiter zur Arbeit anfeuern, falls Hilfe erforderlich ist. Ich werde die meiste Zeit hier verbringen und die Umsetzung des Plans in Volumen vorantreiben. In den ersten Abendstunden kommt ihr hierher, und wir prüfen gemeinsam, wie es mit dem Gebäude vorangeht.»
Die Meister schworen bei ihrem Leben, daß sie das Geheimnis, das sie teilten, niemals verraten würden.
Hirams Herz war froh. Mit diesen von einer neuen Vision beseelten Menschen konnte er trotz ihrer geringen Zahl und ihrer Unerfahrenheit Hunderte von Arbeitern richtig anleiten. Salomo hatte sich auf ein unendlich verrücktes Abenteuer eingelassen und dabei die tatsächlichen Schwierigkeiten übersehen. Zweifellos glaubte er mittlerweile auch nicht mehr an seinen Traum. Dennoch würden Hiram und seine Bruderschaft diesen Traum Wirklichkeit werden lassen.
Kapitel 33
Eine Bauersfrau schob den Hebel, mit dem sich der obere Mahlstein auf dem unteren drehen ließ. Stundenlang würde sie mit derselben Handbewegung das Korn mahlen. Die Steine rieben aufeinander und gaben einen klagenden Ton von sich, denn sie litten wie die Frau, damit Dutzende von Mäulern gestopft werden konnten. Wenn das Mahlen der Mühlsteine aufhörte, so sagten die Weisen, wäre das Ende der Welt gekommen. Erschöpft überließ die Bauersfrau einem jungen Mädchen ihren Platz und kehrte heim, wo sie mit Kunkel und Spindel Garn für Kleiderstoff spann. Ein Zehntel dessen, was sie herstellte, wurde gemäß eines königlichen Erlasses von Salomos Steuereinnehmern abgeholt. Ach, wie drückte diese Maßnahme die kleinen Leute, doch sie war unerläßlich. Wer einen Tempel bauen wollte, mußte sich einer Erweckung unter den Gerechten versichern, oder?
Ein Lärm ließ sie aufhorchen, ein metallisches Surren, das nicht aufhören wollte.
Erschrocken ließ sie von ihrer Arbeit ab und trat vors Haus. Es war hellichter Nachmittag, doch ein Nebel verschleierte die Sonne. Ein Nebel, dessen Schrecken die Bauersfrau kannte. Sie stieß einen Schrei aus und fing an zu wehklagen. Überall ruhte jetzt die Arbeit. Alle hatten die Plage erkannt, die in Israel einfallen würde.
Millionen von Wanderheuschrecken verdunkelten das Tagesgestirn. Sie flogen in festen Formationen und bildeten einen grauen Himmel, ein bewegliches Gewölbe von riesigem Gewicht, das sich aus Insekten zusammensetzte, die ganz leicht waren. Diese kleinen Ungeheuer stürzten sich auf das bebaute Land. Eine Heuschrecke fraß pro Tag ihr Gewicht an Nahrung. Die Schwärme fielen selbst über Schafe her und verschlangen ihre Wolle.
Nichts entging ihnen. Durch einen unfehlbaren Instinkt geleitet, machten sie Äcker und Wiesen aus und übersahen keinen Halm. Beim ersten Anflug schwang ein alter Arbeiter die Gabel und tötete Dutzende. Doch ihre Nachfolger bissen ihn bis aufs Blut und stürzten sich auf ihn, bis er floh. Während Davids Herrschaft waren zwei Ernten durch Heuschrecken vernichtet worden.
Hiram, der die Säulensockel überprüfte, die Gesellen polierten, bemerkte die Gefahr. In den Jahren, in denen die Löwengöttin nicht richtig angebetet worden war, hatten Heuschreckenschwärme Ägypten mit Hungersnöten bedroht. Nur der Zauber eines Pharaos konnte die Eindringlinge abwehren. Wie viele Wochen würde Israel Opfer dieser unerbittlichen Angreifer sein? Wieviel Zeit würde die Baustelle ruhen, die Frondienste nicht geleistet werden? Menschen hatten es nicht geschafft, Meister Hirams Arbeit zu durchkreuzen, den Insekten jedoch konnte es gelingen.
Königin Nagsara, die in ihrem Garten ruhte, flüchtete sich in ihre Gemächer. Auf Festmählern im Palast von Tanis hatten Geschichtenerzähler vom Jahr der Heuschrecken berichtet. Es gab keine andere Rettung, als sich ins Haus zu flüchten und alle Öffnungen fest zu schließen.
Salomo, der oben in Davids vom Felsen überragten Palast war, rollte den Papyrus zusammen, auf den er eine Hymne an die Weisheit schrieb. Die gräßliche Insektenwolke war entweder eine Strafe Gottes oder ein Fluch des Teufels. Verurteilte Jahwe den Wunsch des Königs? Wollten ihn die Mächte der Finsternis vernichten? Salomo kannte nur ein Mittel, das herauszufinden, er mußte Nagsara fragen.