«Gewiß nicht!» protestierte der oberste Heerführer.
«Falls du so urteilst, Banajas, dann finde Joab, Davids Feind.»
«Und wenn ich ihn gefunden habe…»
«Dann führt dein Arm mein Urteil aus: Tod.»
«Gebieter, noch ehe die Sonne des morgigen Tages aufgeht, werde ich dich zufriedengestellt haben.»
Als Banajas gegangen war, hätte Salomo seine Not am liebsten hinausgeschrien. Er hatte keine andere Wahl. Wie hätte er sich weigern können, Davids letzten Wunsch zu erfüllen?
Der künftige König Israels speiste in Gesellschaft seiner Mutter, doch er rührte keinen Bissen an, schickte die Musikanten fort und befahl dem ganzen Palast völliges Schweigen.
«Mein Sohn, warum quälst du dich so? Gott hat gewollt, daß du David auf den Thron folgst. Alles Aufbegehren ist vergebens. Achte seinen Wunsch, dann hast du friedliche Tage. Erlaube mir… erlaube mir, dir eine Bitte vorzutragen.»
Salomo erwachte aus seiner Benommenheit. Seine Mutter verhielt sich ihm gegenüber wie eine Dienerin gegenüber ihrem Herrn. Für sie war er nicht mehr ihr Kind, sondern ihr König.
Eine Welt brach zusammen, und eine größere Welt öffnete sich. Er mußte nur noch ihre Gesetze entdecken.
«Sprich, Mutter.»
«Adonais, ein Höfling, hat gebeten, eine Nebenfrau Davids heiraten zu dürfen. Er bittet um deine Zustimmung.»
Totenblaß sprang Salomo auf. Noch nie hatte Bathseba ihren Sohn so kalt und zornig erlebt.
«Mutter, bist du dir der Bedeutung dieser Bitte bewußt? Die Nebenfrauen meines Vaters sind jetzt meine! Was Adonais da fordert, ist der Thron!»
Salomo täuschte sich nicht. Die Bitte des Höflings kaschierte einen versuchsweisen Staatsstreich. Bathseba hatte einen unverzeihlichen Fehler begangen.
«Wer sich schuldig macht, sich anstelle des Königs zum König auszurufen», rief sie ihm ins Gedächtnis, «verurteilt sich selbst zum Tod.»
Als Banajas in den Palast zurückkehrte, betrachtete Salomo den Polarstern. Den Blick auf die Erdachse gerichtet, von der ein unsichtbarer Faden Himmel und Erde verband, hatte er versucht, die menschlichen Sorgen zu vergessen und die Augen mit dem Schein des Himmelszeltes zu füllen, das sich ins Unendliche erstreckte.
Banajas blieb im Halbdunkel stehen. Salomo drehte sich nicht zu ihm um.
«Ein Fehlschlag, Gebieter», murmelte er mit heiserer Stimme.
«Hast du mir etwa nicht gehorcht?»
«Man hat Joab vor mir gewarnt, er ist in einen kleinen Tempel auf dem Land geflohen, an einen geheiligten Ort. Dort kann ihn meine Schwertspitze nicht erreichen. Man muß abwarten…»
«Niemand darf Hand an einen Mann legen, der bei Gott Zuflucht sucht», erkannte auch Salomo, «es sei denn, es handelt sich um einen Verbrecher. Ist das etwa nicht der Fall, Banajas? Joab hat Davids Neffen umgebracht. Er hat seine Freunde ermorden lassen. Glaubst du, daß er deine Nachsicht verdient? Glaubst du, daß Gott ihm gern Schutz gewährt?»
Als Salomo den Blick wieder zum Polarstern hob, ritt Banajas bereits durch eins von Jerusalems befestigten Toren.
Gemäß den Trauergebräuchen hatte sich Salomo weder gewaschen noch rasiert und auch nicht die Kleidung gewechselt.
Während ein Zug Klageweiber seinem Gram lauthals Luft machte, näherte sich Davids Sohn dem Leichnam seines Vaters, der mitten auf dem kleinen Platz vor dem Palast auf einem hölzernen Schlitten aufgebahrt lag. Man hatte seine sterbliche Hülle mit duftendem Öl gewaschen und mit Myrrhe und Aloeholz parfümiert.
Ein purpurnes Gewand verhüllte den Leichnam. Zu seiner Rechten lag die Harfe, auf der er sich beim Singen begleitet hatte, zu seiner Linken das Schwert, mit dem er gekämpft hatte. Auf seiner Stirn funkelte ein Diadem.
Salomo küßte seinen Vater auf die Schläfe. Es war der allerletzte Kuß, ein Kuß der Sohnesliebe, die den Tod überdauern würde. Auf diese Weise ging die Seele des ehemaligen Herrschers in die des künftigen Königs über.
Bathseba schritt an der Spitze des Zuges, gefolgt von Klageweibern, die zu trauriger Flötenbegleitung einen monotonen Singsang anstimmten. Die Witwe war die lebende Verkörperung Evas, die den Tod über die menschliche Rasse gebracht hatte und ihr nun den Weg in jene andere Welt öffnen mußte.
Je weiter die Prozession vorankam, desto wilder gebärdeten sich die Frauen, streuten sich Staub auf den Kopf und stießen wilde Schreie aus. Bathseba, deren majestätische Haltung die am Weg zur Gruft drängelnde Menschenmenge beeindruckte, schlug nicht den gewohnten Trauerweg ein, der ins Tal Josephat unweit der Stadt führte, sondern schritt in Richtung der höchsten Mauer der befestigten Stadt.
Hier hatte man auf halber Höhe eine tiefe Höhle mit Flachgewölbe in den Felsen geschlagen, zu der eine Planke führte. Der Stein in ihrem Inneren war grob behauen. Salomo, Banajas und Zadok, der Hohepriester, hielten den Trauerzug an. Davids Sohn betrat die Grabkammer allein und versenkte sich lange neben dem Leichnam, der auf einer Bank aus Kalkstein ruhte. Unter seinem Kopf lag ein duftendes Kissen, eine Gabe an David, die den zarten Duft des Gartens Eden heraufbeschwor.
Als Salomo die letzte Ruhestätte seines Vaters verließ, versperrte Banajas den Zugang mit einem Felsblock, den Maurer zurechtrückten und überputzten. Das Andenken daran würde im Laufe der Jahrhunderte vergessen werden, Gebeine und Fleisch würden vergehen, doch David würde für alle Zeiten in den Befestigungen seiner Hauptstadt ruhen, bereit, sie gegen die Mächte der Finsternis zu verteidigen.
Bei einem Mahl, das Salomo, Bathseba und die Mitglieder des Kronrats gemeinsam einnahmen, gab es als einzige Speise ein Trauerbrot, das der Hohepriester gesegnet hatte. Jeder Gast durfte einen Becher Wein trinken.
Banajas schenkte Salomo ein, beugte sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr:
«Gebieter, es ist getan. Der Verbrecher ist bestraft.»
Der oberste Heerführer hatte Joab aus dem kleinen Tempel herausgezerrt, doch dieser hatte sich mit blutigen Fingern festgeklammert und geschrien. Darauf hatte Banajas ihm die Kehle durchgeschnitten. Alsdann war er zu Adonais gegangen und hatte ihm wegen Hochverrat und Verschwörung gegen den König das gleiche Schicksal zukommen lassen und damit den Befehl der Witwe Davids ausgeführt. Nun konnte der verstorbene Herrscher in Frieden ruhen.
Der geweihte Wein brannte Salomo in der Kehle.
Morgen würde er gekrönt werden.
Kapitel 4
Stetig trappelte das Maultier mit der Schönen, perlgrauen Satteldecke die Straße nach Gihon entlang, wo sich die wichtigste Quelle, aus der die Einwohner von Jerusalem ihr Wasser schöpften, und das für die Bundeslade erbaute Heiligtum befanden.
Salomo, der das Tier ritt, war gar prächtig anzusehen in seiner roten, golddurchwirkten Tunika; er bereitete sich auf die Krönungszeremonie vor, die ihn in den Augen Gottes und seines Volkes zum neuen König Israels machen würde.
Der Weg lag im milden Sonnenschein und war rasch zurückgelegt. Gedankenverloren sprach Salomo zu dem Tier im Takt seiner Schritte.
Der Hohepriester Zadok und Nathan, der Lehrer, standen vor der Bundeslade. Sie trugen helle Gewänder. An diesem geheiligten Tag hatte Zadok auf seine prächtigen Amtsroben verzichten müssen, denn nur der König durfte in der ganzen Pracht seiner Insignien auftreten.
Salomo stieg vom Maultier und streichelte ihm den Hals. Dann ging er neun Schritte und blieb zwischen Zadok und Nathan vor der enthüllten Bundeslade stehen. Eine Kette von Soldaten hielt den Hof zurück. Was in Gihon geschah, durften nur Gott und seine nächsten Diener sehen.
Zadok und Nathan hoben ein mit Öl gefülltes Horn über Salomos Kopf und gossen den Inhalt langsam auf das Hinterhaupt des Herrschers.