«Du begreifst noch immer nicht… Dieses Mal, dein Name… ich ertrage es nicht länger!»
Der Baumeister kehrte Nagsara den Rücken. So sah er nicht, daß sie einen Dolch zückte und sich auf ihn stürzte, doch er witterte die Gefahr wie ein wildes Tier.
Er wehrte den Angriff mit dem Unterarm ab und lenkte den Dolch in eine andere Richtung.
Nagsara ließ ihn fallen und trat ein paar Schritte zurück.
«Verlasse Jerusalem, sonst bringe ich dich um», bekräftigte sie.
Seit etlichen Tagen und Nächten fegte ein winterlicher Wind über den Felsen. Das königliche Paar wohnte trotzdem in seinem neuen Palast, der gerade mit Fayencen geschmückt wurde. Kohlebecken verbreiteten eine angenehme Wärme.
Dem Wind folgten heftige Regenfälle. Der Boden wurde schlüpfrig, und das überrumpelte die Viehzüchter, die es gewohnt waren, ihre Herden oben auf den Hügeln weiden zu lassen. Wilde Fluten ergossen sich durch Gebirgsbäche und Wadis und stürzten die Hänge hinunter.
Eine Flutwelle ergriff das Zeltlager der Bauarbeiter, die in Jerusalem wohnten, eine andere die Gießereien am Ufer des Jordan. Menschen ertranken. Bei den Fronarbeitern zählte man an die hundert Opfer. Jerobeam erklärte, daß er nicht in der Lage sei, etwas gegen die Katastrophe auszurichten, und machte Hiram dafür verantwortlich. Der Oberbaumeister stahl sich nicht aus der Verantwortung, sondern organisierte mit Hilfe Salomos Rettungsmannschaften.
Werkzeuge und behauene Steine hatten auch Schaden genommen. Der wichtigste Steinbruch war überflutet und wochenlang nicht mehr zu gebrauchen. Nichtbefestigte Straßen standen unter Wasser, so daß keine Fahrzeuge mehr durchkamen. Einige Gegenden waren für längere Zeit von der Außenwelt abgeschnitten.
Zadok und die Priester prophezeiten ein Ende der Arbeiten. Im Volk wuchs der Unwille gegen Meister Hiram. Die Begeisterung der Anfangsjahre erlahmte. Der Tempel wurde zu einem Trugbild. Auf dem Felsen stand fürs erste der königliche Palast. Salomo hatte seinen Ruf gefestigt. Was wollte er mehr?
Mit Hilfe seiner Meister entzündete Hiram Lagerfeuer, um die sich die Arbeiter scharen konnten. Die königliche Verwaltung wachte darüber, daß es ihnen weder an Nahrung noch an Kleidung fehlte. Der König und Meister Hiram vereinten ihre Anstrengungen. Hirams Wort war eine wirksame Waffe; mit seiner Begeisterung und Überzeugungskraft überredete er seine Bruderschaft, daß sie die Baustelle nicht verließ und den Bauplan bis zum Schluß durchhielt.
Das gleiche erklärte Salomo vor dem Thronrat. Das Volk wußte, daß der Wille des Königs unerschütterlich war.
Als die Sonne wieder schien, gingen die Fluten zurück. Die Arbeit wurde wiederaufgenommen. Keiner der durch das Auflegen des Siegels genesenen Arbeiter war umgekommen. Das Wetter war wieder heiter, und das wurde Salomo zugeschrieben, dessen Weisheit sogar Gott erkannte.
Kapitel 35
Hirams Charakter verdüsterte sich. Daß die Schönheit des Palastes Salomo zur Ehre gereichte und nicht ihm, war ihm einerlei. Doch der Bau des Tempels wurde immer schwieriger und verlängerte die Zeit seiner Verbannung. Die Fronarbeiter beklagten sich. Jerobeam sprach in ihrem Namen: Er beschwerte sich über ihr elendes Leben, für das allein Hiram verantwortlich war. Um die wachsende Wut zu dämpfen, war Salomo gezwungen gewesen, den Lohn zu erhöhen, wodurch sich seine Schatzkammer schneller leerte, als ihm lieb war.
Einige Lehrlinge waren zu Gesellen befördert worden, doch kein Geselle war Meister geworden. Die durch Hiram neu Berufenen bildeten den Kern der Bruderschaft und schwiegen sich über die Geheimnisse, die sie kannten, aus. Den Gesellen, die von ihnen Beförderung und bessere Bezahlung forderten, erwiderten die Meister einhellig, das könnten sie nicht entscheiden. Nur Hiram ernannte einen Gesellen, wenn er ihn für gut hielt, zum Meister. Ein ungeduldiger Lehrling, der sich erlaubt hatte, den Oberbaumeister zu schmähen, wurde in sein Dorf zurückgeschickt. Das hielt man allgemein für eine strenge Strafe, doch niemand begehrte dagegen auf.
Hiram gestand sich nur eine einzige Freude zu: lange Spaziergänge über Land mit seinem Hund, und das einige Stunden in der Woche. Da vergaß er die Alltagssorgen, träumte von seiner verlorenen Freiheit, dachte an die Landschaften Ägyptens. Er unterhielt sich mit der Sonne und der Luft und glaubte, die Last, die sein Leben war, ablegen zu können. Er genoß die trügerische Vorstellung, er wäre ein Reisender und bräche in sein Heimatland auf.
Doch dieses Mal war der Ausflug nicht nach seinem Geschmack, glich einem Gericht ohne Salz. Die Ausführung des Bauplans entsprach nicht den Forderungen des Baumeisters. Die Ruhezeiten waren zu lang. Die Arbeiter erlahmten. Trotz der fröhlichen Sprünge seines Hundes und der frühlingshaft erwachenden Natur dachte Hiram ununterbrochen über eine Neuorganisierung der Arbeit nach. Morgen würde er die Bautrupps verdoppeln und mehr aus den Fronarbeitern herausholen.
Wie an jedem Vorabend des Sabbat säuberte Kaleb den unterirdischen Raum, den sich Meister Hiram zur Wohnung erkoren hatte. Er hatte die Lampen mit Öl gefüllt und einen Teller mit Saubohnen, einen Fladen und Feigen auf einen Stein gestellt. Am Tag der geheiligten Ruhe verlangte die Tradition, daß die Küche kalt blieb.
«Schon wieder dieser Sabbat», protestierte Hiram.
«Das ist unsere heiligste Tradition», meinte der Hinkefuß. «Die befolgen wir schon seit Generationen. Hat Gott selbst nicht auch am siebten Tag geruht, nachdem er die Welt erschaffen hatte?»
«Ich habe meine noch nicht fertiggestellt. Diese verlorenen Tage stehen meinem Bauplan im Wege.»
Kaleb fand die Einstellung des Oberbaumeisters nicht statthaft.
«Wir müssen doch Atem schöpfen! Du vergißt wohl, daß der erste Mensch zu Beginn des ersten Sabbat geboren wurde, und weißt nicht, daß unserem Volk die Flucht aus Ägypten an einem Sabbat geglückt ist? Ihn nicht zu heiligen ist ein ganz schlimmer Fehler. Mein Fürst, du denkst doch nicht etwa daran…»
«Fege weiter, Kaleb.»
Die Schreiner stellten mit Hilfe einiger Handlanger einen riesigen Baumstamm auf, und sofort begann man mit dem Abästen. Hiram erteilte knappe und genaue Befehle. Ihm blieb nur noch eine Stunde bis zum Beginn des Sabbat. Jerobeam musterte den Himmel. Er wartete ungeduldig darauf, daß er die Fronarbeiter entlassen konnte.
Wenn die ersten drei Sterne in der Abenddämmerung leuchteten, begann der Sabbat. Die Trompete erklang zum ersten Mal und forderte die Arbeiter auf, von ihrer Arbeit abzulassen. Auch die Hilfsarbeiter beugten sich dieser Sitte. Als die Trompete zum zweiten Mal erscholl, hörten auch die Gesellen mit der Arbeit auf. Beim dritten Trompetenstoß wurde vor jeder Behausung eine Lampe entzündet, das Symbol dafür, daß sich die göttliche Gegenwart durch Ausruhen der Seelen manifestierte. Von jetzt an wurde gegessen, wenn auch sparsam. Zum Essen gehörten Wein und dreimal gesegnete Gewürze.
Einer der Schreinergesellen sammelte auf Befehl von Meister Hiram die abgesägten Äste auf. Nach Arbeitsende mußte die Baustelle ordentlich sein.
Wütend nahm Jerobeam einen Stein und zielte damit auf den Kopf des Gesellen. Der brach zusammen. Sein Blut färbte die Erde rot.
«Er hat den Sabbat entweiht!» brüllte der rote Riese. «Er hat den Tod verdient!»
Die Arbeiter vermittelten zwischen ihrem Fronvogt und Hiram.
In den Familien betete man um Frieden.
Salomo hatte trotz Hirams Beharren nicht in ein Gerichtsverfahren eingewilligt. Zahlreichen Zeugen zufolge hatte das unselige Opfer eine so schlimme Sünde begangen, daß es der göttliche Zorn unverzüglich niedergestreckt hatte. Jerobeam war lediglich Jahwes Arm gewesen. Wer würde es wagen, ihn zu bestrafen?
Der Baumeister stand vor dem König und machte seinem Zorn Luft.
«Fromme Feste, geheiligte Ruhe, unveränderliche Riten… reicht das in deinen Augen, einen Unschuldigen zu töten?»