Man mußte alles, was das Land teilen und zu den alten Ordnungen zurückkehren wollte, im Keim ersticken, und die Gelegenheit, die sich dazu bot, war ein Gottesgeschenk. Daher begab sich Salomo in die Kapelle, wo der Hohepriester gerade die Morgenandacht beendet hatte. Zadok war überrascht. Noch nie hatte der König ihm einen solchen Besuch abgestattet. Begriff er endlich, daß man nicht herrschen konnte, ohne zu teilen, und daß er der Geistlichkeit Gehorsam schuldete?
Der Herrscher setzte sich auf eine Steinbank. Zadok nahm zu seiner Rechten Platz.
«Kennst du dich mit den Pflichten eines Hohenpriesters aus?»
«Aber gewiß doch, Majestät.»
«Du hast keine Witwe geheiratet?»
«Selbstverständlich nicht!»
«Und auch keine Geschiedene?»
«Majestät…»
«Keine ehemalige Hure?»
«Majestät, du weißt, daß ich Witwer bin und mir keine neue Frau genommen habe!»
«Um so besser, Zadok. Du hast deine Bartspitzen nicht gestutzt?»
«Gott bewahre! Das wäre ein unverzeihlicher Fehler.»
«Und auch vor dem Gottesdienst keinen Wein getrunken?»
Jetzt wurde Zadok besorgt.
«Bist du gekommen, um mit mir über die rituellen Vorschriften zu reden, die mein Amt betreffen?»
«Über eine insbesondere. Weiß du nicht, daß es dir verboten ist, ein totes Tier zu essen, das nicht vom Opferpriester geschächtet worden ist?»
«Solches Unwissen wäre ungemein sündhaft.»
«Und doch hast du gestern ein unreines Lamm gegessen.»
«Majestät, das kann nicht sein!»
«Ich habe einen Beweis und einen Zeugen», bestätigte Salomo. «Du bist unvorsichtig gewesen.»
Der König benannte Kaleb, den Hinkefuß, nicht, der dem Hohenpriester eine Falle gestellt und dafür gesorgt hatte, daß es Salomo erfuhr.
Zadok senkte den Kopf. Die Anschuldigung des Herrschers wog schwer. Der Hohepriester lief Gefahr, auf die schmählichste Weise abgesetzt zu werden, was den Ruf seines Geschlechts für immer beflecken würde.
«Ich will Nachsicht walten lassen», sagte Salomo. «Unter der Voraussetzung, daß du dich auf diese Kapelle beschränkst und kein einziges Wort mehr gegen Meister Hiram sagst. Höre auf, dich dem Bau des Tempels zu widersetzen.»
Auf dem Felsen hatten Meister und Gesellen die Arbeit wiederaufgenommen, sie gingen nach dem Bauplan vor, der auf dem Fußboden der neuen Werkstatt ausgebreitet lag, in der er aufbewahrt wurde. Die Meister entschlüsselten Meister Hirams Notierungen, und er gab jeden Morgen die Proportionen vor, nach denen aus dem Plan Masse, aus der Zeichnung Wirklichkeit wurde.
Als der Baumeister endgültig den unterirdischen Raum verließ und sich auf der Baustelle in der Nähe des Bauplans niederließ, befahl Salomo ihn in den Palast.
Junge Dienerinnen mit verheißungsvollen Körpern reichten Becher mit neuem Wein und Datteln, die auf der Zunge zergingen.
Der Baumeister weigerte sich, Platz zu nehmen.
«Majestät, ich habe keine Zeit für Empfänge, ich bin zu weit im Rückstand.»
«Und das wird noch schlimmer, wenn du dich weigerst, mich anzuhören.»
«Neue Hindernisse?»
«Der Tempel ist ein gewaltiges Werk, und Israels Wirtschaft dient ihm. Die vom Volk gemachten Anstrengungen entsprechen dem Unterfangen und dem, was es erfordert. Dennoch…»
«Dennoch», meinte Hiram, «vergehen die Monate schnell, und die königliche Schatzkammer leert sich.»
Salomo hatte auf den Durchblick des Baumeisters gesetzt. Von seiner Entscheidung hing die Zukunft des Heiligtums ab.
«Ein König», so fuhr der Oberbaumeister fort, «darf sich nicht so weit herablassen, daß er seinen Diener um Hilfe bittet. Vor allem kein König, der den Ruf eines Weisen hat. Du hast dir zuviel vorgenommen, Majestät. Israel ist nicht reich genug, um diesen Felsen in eine Wohnstatt Gottes zu verwandeln.»
Salomo hätte Hiram am liebsten umgebracht, dann wäre mit seinem Stolz und seiner Überheblichkeit Schluß gewesen. Weiter konnte sich der Herrscher nicht erniedrigen.
«Ich verabscheue Kleinlichkeit», gestand Hiram. «Dein Abenteuer ist auch meines geworden. Ich werde ein zweites Mal beim ersten Ratgeber der Königin von Saba vorstellig werden. Laß auf Israels Äckern reichlich Korn anbauen, dann erhältst du noch einmal Gold.»
Als das Gold von Saba im Hafen von Ezjon-Geber eintraf, jubelten Seeleute, Soldaten und Hafenarbeiter und ehrten Salomos Namen. Wer hatte die Gunst der Königin mit den unerschöpflichen Vorräten gewonnen? Wer hatte sie davon überzeugt, Israel wie einen bevorzugten Verbündeten zu behandeln? Viele Herrscher waren daran gescheitert. Salomos Erfolg kam von seiner Weisheit, die ihm stets zur Verfügung stand. Beflügelte sie nicht seine Gedanken, sagte sie ihm nicht, was er tun sollte?
Meister Hiram schwieg darüber, daß er eingegriffen hatte, und überließ Salomo den Ruhm.
Es stimmte den König von Israel verdrießlich, daß er erneut in Hirams Schuld stand. Der Oberbaumeister gab keinen Zoll Boden preis. Dennoch hätte er sichtbare Vorteile aus dem Ruf ziehen können, den er genoß. Die Priester hatten mit ihren Angriffen gegen ihn aufgehört. Das Volk fürchtete ihn. Etliche hohe Würdenträger hätten es gern gesehen, wenn man ihm den Titel Oberster Verwalter verliehen hätte. Doch Hiram zeigte sich nicht im Palast, sondern verkroch sich auf der Tempelbaustelle.
Diese Haltung verärgerte Salomo. Er glaubte nicht daran, daß sich der Baumeister nicht für menschliche Belange interessierte. Er stand an der Spitze einer gestrengen Hierarchie, war umgeben von Meistern, die ihm unbedingte Treue geschworen hatten, und nahm damit im Herzen des hebräischen Staates einen ständig wichtigeren Platz ein.
Falls es mit dem Bau des Tempels langsam voranging, falls die Arbeiten unter der Langsamkeit litten, war das etwa doch nach dem Willen des Oberbaumeisters? Hätte er nicht gern sein Wissen als Erbauer gegen die zunehmende Macht getauscht, die ihn demnächst als unerläßlichen Ratgeber Salomos erscheinen lassen würde?
Auch Nagsaras Kommen stimmte Salomo nicht heiter. Er hatte sich seit einem Monat nicht mehr mit ihr unterhalten.
Wenn ihn die Lust überkam, so hatte er dafür seine Nebenfrauen, die schweigsam und willig waren.
Die junge Königin mit ihrer Eifersucht und ihren Besitzansprüchen ertrug diese Situation nicht lange. Und Salomo ertrug ihre Vorwürfe nicht. Würde sie ihn dazu zwingen, sie zu verstoßen?
Nagsara lächelte strahlend. Sie schmiegte sich an die Füße des Königs und umschlang zärtlich seine Beine.
«Meine Liebe ist so groß wie das Meer», gestand sie, «mein Verlangen, dich glücklich zu machen, ist unerschöpflich wie die Wellen. Ich kann dir das Glück schenken, das du dir von mir erhoffst.»
«Willst du damit sagen…»
«Daß ich deinen Sohn in meinem Schoß trage, o mein innig Geliebter!»
Salomo hob die Königin auf und schloß sie in die Arme. Die von Nebenfrauen geborenen Kinder waren nur Prinzen ohne Thronansprüche. Der Sohn von Israels Königin würde sein legitimer Nachfolger sein, der vom israelitischen König mit einer Pharaonentochter gezeugte Sohn! Dank ihrer würde die Friedenspolitik dauerhaft sein. Diesem Kind würde Salomo seine Erfahrung, seine Vision, seinen Zauber weitergeben. Er würde ihn herrschen lehren, ihm einen festgebauten, ruhmreichen und wirtschaftlich gesunden Thron hinterlassen und ihm den Weg zu einem strahlenden Reich vorzeigen.
Ein Reich, in dem sich zwei Bruderreiche, Israel und Ägypten, die Welt teilten.
Jetzt war der große Tempel noch nötiger denn je. Durch ihn würden der Ruf Salomos und seines Sohnes durch die Jahrhunderte leuchten.
Hiram arbeitete noch spät mit den Meistern. Das Gebäude nahm in den Köpfen Form an. Seine Proportionen lebten in den Händen der Handwerker, und allmählich wurden sie überschwenglich. Der Oberbaumeister beruhigte sie. Er wollte keine voreilige Arbeit, die zu Baumängeln führte, sondern forderte Bedachtsamkeit und Umsicht. Er beharrte auf den kleinsten Einzelheiten und berichtigte Pläne, die bereits vollkommen erschienen.