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Die Arbeiter hielten inne. Das Tor zur Baustelle wurde von zwei Wärtern bewacht, einer innen, der andere außen. Bis dahin kam man leicht. Die von Jerobeam bestochenen Soldaten hatten die Boten des Fronvogts durchgelassen. Der weitere Teil der Unternehmung war nicht so einfach. Machten Hirams Handwerker ihre Runden? Waren hinter den großen, am Eingang aufgehäuften Blöcken Späher aufgestellt?

Die Arbeiter beobachteten in der blauen Abenddämmerung, daß der Wächter im Schneidersitz zusammengesunken dasaß, er schien zu schlafen. Als die von Jerobeam Ausgeschickten nichts Ungewöhnliches bemerkten, standen sie auf. Einer ging auf den Wachposten zu. Der andere hatte ihm eine Fackel gegeben, die er an einem Kohlenbecken entzündet hatte.

Der Wächter schreckte von dem Licht geblendet hoch und wachte auf.

«Wer bist du, Freund?»

«Ein Handlanger, der auf der Baustelle des Tempels arbeiten will.»

«Geh nach Haus. Meister Hiram stellt niemanden mehr ein.»

«Das hat man mir anders berichtet.»

«Dann hat man dich getäuscht.»

«Das ist mir mal eine eingebildete Bruderschaft… Wer Geheimnisse hütet, ist entweder ein Angsthase oder ein Verschwörer.»

«Geh fort, sonst bekommst du meinen Stock zu spüren!»

«Nicht, ehe du nicht von mir bestraft worden bist!»

Und der Handlanger zündete mit der Fackelspitze, die er wie ein Schwert handhabte, die Kleider des Wächters an. Als der Unselige um Hilfe rief und sich vor Schmerzen schreiend auf dem Boden wälzte, rannten die beiden Fronarbeiter davon.

Das Attentat löste einen großen Tumult aus. Der schlimm verbrannte Wächter wurde im Palast von Salomo höchstpersönlich gepflegt. Der Zauber des Königs, die Salben aus Sais, der Stadt der ägyptischen Ärzte, und die Feigenpflaster ließen ihn wieder genesen. Trotz der Nachforschungen, die vom Oberhofmeister und Schreiber geführt wurden, konnten die beiden Verbrecher nie gefunden werden.

Hiram hatte sich entschieden gegen einen Sperrgürtel bewaffneter Wächter rings um die Baustelle gewehrt. Trotz des Risikos, das sie dabei eingingen, sorgten die Brüder der Bruderschaft weiterhin selbst für ihre Sicherheit.

Der König verfaßte einen Erlaß, daß jeder auf der Stelle gesteinigt würde, der einem Meister, einem Gesellen oder Lehrling Leid antat. Niemand konnte ohne Passierschein, eine Holztafel mit Salomos Siegel, zum Gipfel des Felsens.

Im Volk rumorte es. Jeder fand, Salomos Abhängigkeit von Hiram werde zunehmend besorgniserregender. Gab der König nicht allen Forderungen seines Oberbaumeisters nach? War er in dessen Händen nicht zum Spielzeug geworden? In Wirklichkeit leerte Salomo seine Schatzkammer, um die immer teureren Arbeiten zu finanzieren. Hiram sortierte fehlerhafte Steine aus, und wenn der Fehler noch so klein war, entfernte Säulen, die nicht die richtigen Proportionen besaßen, ließ Mauern einreißen, die ihm nicht gelungen erschienen.

Der König verzweifelte schier, denn Hiram arbeitete, als hätte er alle Zeit der Welt.

In einer windstillen und wolkenlosen Nacht rief Hiram alle Brüder zusammen. Stumm sahen die Meister dem Oberbaumeister zu. Der visierte mit Hilfe eines Zedernstocks, der an der Spitze mit einer Kimme versehen war, den Polarstern an. Sein ausgestreckter Arm wurde zu einer Verlängerung der Sterne. Die Steine sogen das unveränderliche Licht des Nordens auf. Und derart lebendig gemachte Steine würden der Zeit widerstehen.

In dieser Nacht floß der Wein auf der Baustelle in Strömen. Die Handwerker tauschten ihre Erwartungen aus. Sie waren sich bewußt, daß sie an einem gewaltigen Abenteuer teilnahmen. Einzig Hirams Stimme, die ihnen durch die Bruderschaft so nahe und durch die Wissenschaft so fern war, verlieh ihnen eine unerschöpfliche Energie. Vom folgenden Morgen an würden alle Kopfschmerzen und Schlafbedürfnis vergessen, die Steinblöcke ordentlich verteilen und die Feuersteinbohrer handhaben, mit denen die Steine bearbeitet wurden.

Die Gesellen gaben ihnen mit Steinmeißeln Profil und vollendeten es mit kupfernen Stechbeiteln, auf die sie mit Holzhämmern einschlugen. Deren Klingen wurden schnell stumpf, wurden neu geschliffen und dann ersetzt.

Ein Befehl Hirams unterbrach den Gesang der Stechbeitel. Die Handwerker scharten sich um ihn. Der Oberbaumeister stellte sich auf die höchste Steinschicht, die zum Sockel des Tempels hin eine Stufe bildete. Zu seinen Füßen lagen mehrere Balken. Er stellte einen von ihnen senkrecht und verstrebte ihn mit drei Pfosten aus Fichtenholz. Dann stellte er einen zweiten Balken auf und befestigte ihn rechtwinklig am ersten, so daß er sich von unten nach oben schwenken ließ. Sodann stellte er einen dritten Balken auf und verstrebte ihn. Dann knüpfte er aus Stricken Schlingen. Zwei Meister hoben einen Block hoch, den er an das Ende des Balkens hängte, der der Achse am nächsten war. Die sieben anderen Meister zogen an den Seilen und stellten damit das Gegengewicht her, das dem Oberbaumeister erlaubte, den Block mühelos bis zur obersten, noch gedachten Schicht zu heben. Man brauchte nur noch eine zusätzliche Bohle, Hebel und Keile, und schon fügte sich auch der schwerste Stein wohlbehalten und paßgerecht an seinen Platz. So gab Hiram unter den bewundernden Blicken der Bruderschaft die Hebemethode der Erbauer der prachtvollen, ägyptischen Pyramiden preis.

Kapitel 38

Hiram rollte den Papyrus mit dem Bauplan des Tempels zusammen. Er klemmte ihn unter den Arm und ging zum äußersten Rand des Felsens, wo sich das Allerheiligste erheben würde. Alsdann steckte er die zusammengehefteten Blätter in Brand.

Der Baumeister brauchte den Plan nicht mehr. In den Flammen verschwanden die Notierungen der Proportionen und die Maße, die es jetzt nur noch in seinem Kopf gab. Das Bauwerk war Meister Hiram in Fleisch und Blut übergegangen. Er würde keinen Fehler machen, wenn er die Werkmeister und Gesellen bei der Ausführung des Aufrisses anleitete. Von jetzt an sprach der Tempel durch ihn. Das Verlangen, ihn zu erschaffen, brannte wie eine unersättliche Leidenschaft. Wenn Hiram leben wollte, mußte er bauen.

Im goldenen Licht, das zum nächtlichen Himmel hochloderte, bemerkte der Baumeister andere Flammen. In der Ferne hatte noch jemand ein Feuer entzündet, eine ungewöhnliche Antwort auf das Opfer des Oberbaumeisters. Neugierig verließ Hiram die Baustelle und ging die Palastmauer entlang. Oberhalb der Stadt Davids, der Quelle von Gihon und des Kidron-Tals machte er die Stelle aus, wo Flammen und schwarze, ekelhaft riechende Wolken hochstiegen.

Hiram kam an der von Salomos Soldaten errichteten Sperre vorbei und ging bis zum Waldsaum am Rand dieses tiefen und abgeschiedenen Tals. Dort hockten Bettler, die sich anscheinend nicht an dem Geruch brennenden Fleisches störten.

«Geh nicht weiter, Gebieter», riet ihm einer. «Das ist die Gehenna, die Müllhalde von Jerusalem. Selbst die Ärmsten der Armen wie wir wagen es nicht, weiter vorzudringen.»

«Früher», so sagte ein anderer, «hat man hier Unschuldige getötet, um Molochs Zorn zu besänftigen. Heute schüttet man Abfall und Tierkadaver hinein. Aber die alten Dämonen treiben sich hier noch immer herum…»

Die Bettler scherzten nicht, und Hiram nahm ihre Warnung ernst. Doch eine unwiderstehliche Macht zwang ihn, die Gehenna zu erforschen. Trotz des Achs und Wehs der armen Teufel ging er weiter.

Das hier war wirklich die Hölle. Dreckige Abfälle und Verschimmeltes beleidigten Augen und Nase. Der Baumeister stieg über Knochenberge. Das Feuer loderte auf dem Boden dieses Tals der Verzweiflung, dessen Schrecken menschliches Leben nicht zuließ. Dennoch lachte unten am Feuer ein zerlumpter Mann mit gerötetem Gesicht das Lachen eines Irren.

«Unrein!» schrie er Hiram entgegen. «Du bist unrein, ich allein bin rein!»

Der Wahnsinnige hatte auf den Händen Tätowierungen, die Moloch und seine Dämonen mit blutigen Lefzen darstellten.