«Geh nicht weiter! Dazu hast du kein Recht!»
Für einen Augenblick fiel das Licht auf eine massige Form, die mit Unrat bedeckt war. Der Baumeister trat näher.
«Bleib stehen! Nur ein reines Wesen darf diesen Stein berühren!»
Mitten in der Gehenna thronte ein riesiger Block aus rosa Granit. Hiram dachte an die Lehren seiner Meister. Handelte es sich dabei etwa um den vom Himmel gefallenen Stein, den Schatz, den der Erschaffer der Menschen den Handwerkern geschenkt hatte, damit sie darauf Gottes Heiligtum erbauten?
Der Besessene stand auf, er hatte sich jäh beruhigt.
«Faß diesen Block nicht an, Oberbaumeister! Den wird keine Gewalt aufheben, weder die des Himmels noch die der Hölle.»
Hiram achtete nicht auf die Beschwörungen. Als seine Hand den vollendet polierten Stein berührte, da wußte er, daß dieses Meisterwerk aus Ägypten stammte. Nur einem Schüler aus dem Haus des Lebens konnte es gelingen, diese schwarz-rosige Oberfläche so zu glätten.
«Vergiß ihn», drängte der Besessene. «Geh, geh fort! Wenn du nicht gehst, wird dein Werk zerstört!»
Der Wahnsinnige stieß einen Schrei aus, der zum Himmel stieg. Mit einem Satz warf er sich in die Flammen. Seine Lumpen fingen Feuer, seine Haare verwandelten sich in eine Fackel. Er starb, ohne zu lachen.
Hiram war zwar entsetzt, verspürte aber dennoch eine lebhafte Freude.
Er hatte den Eckstein des Tempels gefunden.
Nachdem sich eine Hundertschaft Fronarbeiter einen Weg durch den Unrat der Gehenna gebahnt und den Block vom Schmutz befreit hatte, versuchten Hiram und seine Werkmeister vergebens, ihn von seinem Platz zu schaffen. Zunächst mußte man tiefe Gräben ausheben und haltbare Flaschenzüge bauen.
Salomo kam begleitet von General Banajas und seinem Schreiber Elihap, um das Wunder zu bestaunen. Auch er berührte ehrerbietig den Stein.
«Wie willst du diesen Block verwenden?»
«Als Fundament für das Allerheiligste», antwortete Hiram. «Vorausgesetzt, wir können ihn bewegen.»
Salomo wandte sich nach Osten, schloß die rechte Hand um den Rubin und hob das Haupt zum Himmel.
«Wo Menschen scheitern, haben die Elemente Erfolg. Hast du etwas gegen eine aufkommende Brise, Meister Hiram?»
Jetzt erhob sich ein heftiger Wind. Bösartiger als der Chamsin rüttelte er die Leiber durch, bis sie taumelten.
«Ich kenne den Windgeist», fuhr Salomo fort. «Ich weiß, wo er sich in der Unendlichkeit des Universums unweit der Ufer des Algenmeeres bildet. Er war es, der auf die Stimme des Ewigen hin die Fluten des Roten Meeres zurücktrieb und mein Volk durchziehen ließ. Heute wird seine Kraft noch stärker sein. Sie wird diesen Stein aufheben.»
Der entfesselte Sturm zwang Elihap und Banajas, Schutz zu suchen. Salomo blieb stehen, als machte er ihm nichts aus. Sein Blick kreuzte sich mit Hirams, als der Block erzitterte, als wollte er sich von seinem Leichentuch erheben. Der Baumeister zögerte nicht länger. Er bedeutete seinen Meistern, den Stein mit Seilen zu fesseln. Einer ging die Gesellen suchen. Mit Hilfe des Windes, der aus den tiefsten Gründen des Kosmos gekommen war, nachdem er unterwegs Milch verschüttet hatte, ließ die Bruderschaft den Eckstein des Tempels auf sein Ziel zurollen.
Als man sich zum Hasartha-Fest in Jerusalem versammelte, wo das Volk beim Verspeisen der Schaubrote der Übergabe der Gesetzestafeln an Moses gedachte, suchte Hiram noch immer die hochragenden Zypressenstämme, deren duftendes Holz den Boden des Tempels bedecken sollte. Dann überzeugte er sich von dem hervorragenden Zustand der Ölbäume, die er vor einem Jahr auf dem Lande ausgesucht hatte. Diese sonnengesättigten Bäume, die an die fünfundzwanzig Ellen hoch und mindestens vierhundert Jahre alt waren, sollten das Material für die symbolischen Bildwerke abgeben, mit denen er das Heiligtum schmücken wollte. Die in den Steinbrüchen behauenen Steine, die auf Granitsockeln standen, bildeten eine beeindruckende Reihe, die nur darauf wartete, dem Bau eingefügt zu werden.
Jetzt kündigte sich die entscheidende Phase an. Während mehrerer Tage hatte niemand mehr den Gesang der Stechbeitel, der Hämmer, der Schaber und der Polierer gehört. Kein Eisen störte die Stille der Baustelle, denn Meister und Gesellen erfuhren aus dem Mund des Oberbaumeisters die erforderlichen Geheimnisse, mit denen sie die Kunst des Bauzeichnens in den Raum übertragen konnten.
Die Märchenerzähler vor ihrer hingerissenen Menge hatten hundert Erklärungen, eine noch malerischer als die andere, womit sie das Fehlen des Lärms rechtfertigten. Vor allem hatten die Dämonen dank Salomos Eingreifen damit aufgehört, jede Nacht die Arbeit der Erbauer zunichte zu machen. Auf Befehl des Königs hatten sie sich geläutert und halfen beim Bau mit. Diese feindseligen Kräfte huldigten nun Salomo und waren damit einverstanden, die Handwerker zu unterstützen. Sie kamen aus der Erde, dem Wasser, der Luft, aus Ebenen und Schluchten, aus Wäldern und Wüsten, sprangen aus in den Tiefen verborgenen Metallen, aus dem Saft der Bäume, den Blitzen des Gewitters, den Wellen des Meeres oder dem Duft der Blumen und verneigten sich vor Salomo, der ihnen ihr Siegel auflegte. Daher trugen sie die Blöcke und Stämme, das Gold und die Bronze und schwebten damit über die Erde. Doch die phantasiereichsten Erzähler wußten noch viel mehr zu berichten: Ein Meeresadler mit so riesigen Schwingen, daß sie vom Morgenland bis zum Abendland und vom Süden bis in den Norden reichten, hatte Salomo einen Zauberstein aus dem Abendgebirge gebracht. Den hatte der König Hiram überlassen, der ihn in einen kostbaren Stoff gewickelt und in einen Goldkasten gelegt hatte. Es reichte, daß der Oberbaumeister einen Strich auf den Felsen aus dem Steinbruch zog und den Talisman dort ablegte, schon barst der Felsen von ganz allein. Die Steinhauer mußten die Blöcke nur noch auf die Baustelle bringen. Um diese dann an die anderen anzugleichen, brauchten sie keine Schleifsteine. Dank des Adlergeschenks fügten sie sich mit einer solchen Genauigkeit zueinander, daß kein Mörtel erforderlich war.
«Wir sind gescheitert», stellte Zadok fest. «Salomo und Hiram sind mächtiger denn je.»
Sie waren in dem Keller der Unterstadt fern von neugierigen Ohren zusammengekommen, und Elihap und Jerobeam sahen mißmutig aus. Dem Bericht des Schreibers zufolge gingen die Arbeiten am Tempel nach fünf Jahren peinlich genauer Vorbereitungen mit überraschender Schnelligkeit voran. Die Fundamente waren fertiggestellt, die ersten Steinschichten verlegt, und das Heiligtum wuchs nach einem neuen Rhythmus. Was den Palast des Königs anging, so wurde er von Tag zu Tag schöner. Der Audienzsaal war ausgeschmückt, demnächst sollte die Schatzkammer gebaut werden.
Das Volk jubelte. Die von Salomo geforderten Anstrengungen erschienen ihm leicht. Da Weisheit den König leitete und in seinem Herzen wohnte, warum sollte man ihm dann nicht blindlings trauen? Er hielt, was er versprochen hatte. Der stolze Felsen, dessen Hoffahrt Hirams Bruderschaft gemeistert hatte, war zum Diener von Gottes Tempel geworden, in dem das Licht des Friedens leuchtete.
«Diese vermaledeiten Handwerker haben keine Angst gehabt», beklagte sich Jerobeam. «Und dabei hätte das Attentat auf den Wächter eine wilde Flucht bewirken müssen. Wenn wir es noch einmal versuchen…»
«Zwecklos», hielt Elihap dagegen. «Meister Hiram nimmt ihnen alle Furcht. Sie würden ihr Leben für ihn geben und weichen keiner Drohung.»
Wütend hämmerte der rote Riese mit der Faust auf die feuchte Mauer ein.
«Dann vernichten wir eben den Baumeister!»
«Viel zu gefährlich», meinte der Hohepriester. «Den schützen die Meister und Gesellen. Und bei Nachforschungen würde Salomo sehr schnell auf uns stoßen. Wenn wir Meister Hiram angreifen, zahlen wir mit dem Leben.»
«Müssen wir also den Kampf aufgeben und uns damit abfinden, daß Salomo und Hiram triumphieren?»