Stand in der Schrift nicht geschrieben, daß Jahwe im Dunkel wohnen wolle? Salomo hob den Vorhang. Hiram hielt ihn fest, so daß der Herrscher das Innere dieses riesigen, steinernen Würfels von je zwanzig Ellen Seitenlänge betrachten konnte, dem jegliche Fenster fehlten.
«Und das hier ist das debîr», murmelte er, «der verborgene Raum.»
Die Wände des Allerheiligsten waren mit dem Gold der Königin von Saba überzogen und weltlichen Augen für immer verborgen. Hierher durften nur der König oder sein Stellvertreter und der Hohepriester.
Der Boden war eindeutig höher als in den anderen Räumen, und das entsprach der ägyptischen Symbolik, nach der das Unten der Unendlichkeit begegnete, die sich nach und nach herabsenkte, während sich der irdische Fußboden zu ihr hob.
Darunter lag der vom Himmel gefallene Granitblock.
«Hier soll die Bundeslade aufbewahrt werden», entschied Salomo, «der Schrein, der Gottes Gegenwart unter seinem Volk gewährleistet.»
Der König drehte sich zu Hiram um.
«Laß mich allein.»
Der Vorhang fiel herunter.
In der Finsternis des Allerheiligsten genoß Salomo den Frieden des HERRN. In diesem Augenblick der Fülle inmitten der Einsamkeit, die nach Gottes unsichtbarem Licht verlangte, war der Herrscher auf dem Gipfelpunkt seiner Macht. Was er nicht für sich, sondern für den Ruhm des Einen Gottes erhofft hatte, war Wirklichkeit geworden. Am Ende des Wegs kam die Leere, unerbittlich und gelassen.
Hier würde Salomo von nun an um Weisheit bitten.
Als der König aus dem Tempel trat, blendete ihn die Sonne. Und was er sah, war so erstaunlich, daß er an ein Trugbild glaubte.
Auf dem noch nicht gepflasterten Vorhof thronten zwei Flügelwesen mit menschlichem Kopf von ungefähr zehn Ellen Höhe. Sie waren aus Ölbaumholz gefertigt und mit Gold überzogen und ähnelten den Sphinxen, die als Wächter zu Alleen aufgereiht zu den Tempeln Ägyptens führten. Meister Hiram hatte ihnen Salomos Gesicht gegeben.
«Das hier ist das Meisterwerk der Meister», sagte Hiram.
Salomo musterte die erstaunlichen Wesen eingehend. Kein Makel störte ihre Pracht. Wer anders als der König der Himmel durfte diese Engel betrachten, die in der Schrift Cherubim genannt wurden.
«Man stelle sie im Allerheiligsten auf», entschied Salomo, «denn sie sollen menschlichen Blicken entzogen werden. Ihre Flügel sollen die Bundeslade beschützen. Sie werden den Odem Gottes verkörpern und die Seelen der Gerechten in den Himmel tragen.»
Der König bewunderte aufs neue die beiden Säulen und durchschritt im Geist die Achse des Tempels.
«Können wir die Einweihung vorbereiten, Meister Hiram?»
«Der Vorhof und die angrenzenden Gebäude sind noch nicht fertig.»
«Brauchen wir die?»
«Sind sie nicht unerläßlich? Ohne sie ist der Tempel einfach nicht fertig.»
Salomo zügelte seine Ungeduld, denn Meister Hiram hatte recht.
«Außerdem», so sagte der Baumeister, «gibt es noch ein anderes einzigartiges Werk, das ich gern schaffen würde. Die gesamte Bruderschaft wird daran arbeiten und die Gießer unterstützen.»
«Wieviel Zeit braucht ihr?»
«Einige Monate, wenn ich von überall Hilfe bekomme.»
«Wie sollte es anders gehen, Meister Hiram? Worte sind zu klein, um auszudrücken…»
Der König hielt inne. Wenn er dem Baumeister dankte, der nur seinen Vertrag erfüllt hatte, erniedrigte er sich. Ein Herrscher durfte seinem Diener nicht danken, auch wenn es sich um den Oberbaumeister handelte. Gern hätte Salomo dem scheuen Baumeister seine Freundschaft bezeugt und seine Sorgen und Hoffnungen mit ihm geteilt. Doch das verbot ihm sein Amt.
Zwischen den Säulen sitzend, sah sich Hiram den Sonnenuntergang an. Die Mitglieder der Bruderschaft ruhten sich erschöpft aus, ehe sie die Arbeit wiederaufnahmen. Jetzt kam nämlich der gefährlichste Teil. Der Baumeister hatte alle nur möglichen Sicherheitsvorkehrungen getroffen, damit keiner seiner Handwerker in Lebensgefahr geriet. Er stand höchstpersönlich dafür ein, hatte jedoch Hilfe nötig. Es wäre unerträglich für ihn, wenn einer seiner Gesellen auf der Baustelle umkäme, aber die Idee fallenzulassen, die ihm gekommen war, das war gleichermaßen unmöglich. Zur Krönung des Tempels und zu seiner eigenen Reinigung nach der übermenschlichen Anstrengung, die ihm im Laufe der langen Verbannungsjahre abgefordert worden war, mußte seine Vision Gestalt annehmen.
Hiram bedauerte, daß die Unterhaltung mit Salomo auf dem nicht vollendeten Vorhof fehlgeschlagen war. Gern hätte er seiner Bewunderung für einen vom Heiligen ergriffenen König und der Freundschaft, die trotz aller Anfechtungen entstanden war, in Worten Ausdruck verliehen. Doch Salomo herrschte über Israel, er über seine Bruderschaft. Der Herrscher hatte die Werkzeuge nicht gehandhabt, hatte keinen Schweiß vergossen, hatte sich nicht die Hände wund gearbeitet. Er würde weder im Schmerz noch in der Freude zu diesen Brüdern gehören. Was er und der König verwirklicht hatten, ging über sie hinaus, ohne sie jedoch zusammenzubinden.
In den letzten Strahlen der untergehenden Sonne schlenderte Hiram über die Baustelle. In einigen Tagen würde er die Zeichenwerkstatt abbauen. Die Geschichte würde die Arbeit und die Leiden der Erbauer auslöschen. Das Bauwerk, das sie geschaffen hatten, gehörte ihnen nie wieder.
Der Fuß des Oberbaumeisters stieß gegen einen Kalksplitter, unter dem sich ein Loch verbarg. Auf der Suche nach einem anderen Unterschlupf kam ein schwarzer Skorpion hervorgekrabbelt.
Der Skorpion der Göttin Sechmet, der einem die Kehle zuschnürte, die Luftzufuhr verhinderte und den Tod nach sich zog… War der Mörder mit dem dunklen Panzer ein schlechtes Omen? Wessen Hinscheiden kündigte er an?
Kapitel 41
«Ich fordere den Tod», sagte Zadok. «Warum diese Strenge?» verwunderte sich Salomo. «Weil sich deine Gemahlin der schwarzen Magie schuldig gemacht hat. Mehrere Priester haben gesehen, wie sie zu falschen Gottheiten gebetet hat, am hellichten Tag eine Flamme hat brennen lassen und Beschwörungen ausgesprochen hat, ehe sie in gottlose Ekstase verfallen ist. Im Namen Jahwes und des israelitischen Gesetzes fordere ich einen exemplarischen Prozeß. Und von diesem Gesetz ist niemand ausgenommen.»
Zadoks Zorn war nicht vorgetäuscht. Zu seinem Haß auf die Ägypterin kam noch sein fordernder Glaube als Hoherpriester.
«Sind deine Zeugen bereit, vor mir zu erscheinen?»
«Sie sind es, Majestät.»
«Man lasse die Anschuldigung formulieren.»
Salomo wußte, daß es im Volk rumorte. An den Toren der Hauptstadt, wo die Märkte waren und man Tagelöhner anheuerte, riefen die durch das Benehmen der Königin aufgebrachten Gläubigen nach Bestrafung. Man wetzte fleißig die Zungen. Zu einer Zeit, in der sich Jahwe an dem schönsten jemals erbauten Tempel erfreute, wie durfte man da zulassen, daß eine Fremdländerin ihm mit heidnischen Riten trotzte?
Falls Salomos Weisheit ihm bei seinen Unternehmungen half, mußte die nicht durch die Anwesenheit einer Teufelin an seiner Seite Schaden nehmen? Wen anders als Nagsara traf die Schuld an den Gebrechen der Greise, dem vorzeitigen Tod von Neugeborenen, dem alles verdorrenden Chamsin, den mageren Ernten und den zu strengen Wintern? War sie nicht schuld an Nachtdämonen und Insektenwolken? Das Volk hatte bereits gerichtet: Nagsara, die Ägypterin, mußte verschwinden.
Als die Zeichenwerkstatt abgebaut und der Vorhof voller Arbeiter war, die das Pflaster legten, bewohnte Meister Hiram zusammen mit seinem Hund und Kaleb erneut den unterirdischen Raum. Dem Hinkefuß, dem die Atmosphäre auf der Baustelle, wo es ausschließlich um Arbeit ging, nicht gefallen hatte, bot sich erneut Gelegenheit, ausgezeichnete Gerichte zu kochen, die dem Baumeister fast genausogut mundeten wie Anup.