«Hilf mir, Meister Hiram.»
Der Baumeister hob die hinteren Tragestangen der Bundeslade an, der König die vorderen. Das immerhin recht beträchtliche Gewicht erschien ihnen leicht. Zusammen schritten sie durch die beiden Säulen, durchquerten die Vorhalle, dann den bêkal, in dem der Altar mit den Duftsalben, der Tisch mit den Schaubroten und die zehn goldenen Leuchter standen, und gelangten endlich in das debîr, wo die Cherubim Seite an Seite wachten; sie erhoben sich bis zur halben Höhe des Allerheiligsten; ihre Flügel berührten sich innen und ihre Spitzen die Außenmauern und bildeten so ein Gewölbe, unter das die Bundeslade gestellt wurde.
Der Oberbaumeister entfernte sich.
Salomo bot der Bundeslade das erste Weihrauchopfer dar. Die göttliche Gegenwart offenbarte sich in der duftenden Wolke. Der König spürte, wie ihn ein warmes Licht umhüllte. Die goldenen Augen der Cherubim glänzten.
Salomo erschien vor seinem Volk. Er wusch sich die Hände, drehte die Handflächen zum Himmel und übergab Jahwe den Tempel. Tausende von Gläubigen hatten Tränen in den Augen und fielen auf die Knie.
«HERR Gott segne Dein Heiligtum und Deine Gläubigen! Laßt uns unseren Bund mit Ihm erneuern. Er sei uns gnädig und gewähre uns Seine Hilfe gegen die Mächte der Finsternis. Der HERR sei mit euch, wie es war im Anfang und von Ewigkeit zu Ewigkeit. HERR, verlasse uns nicht, laß sich unsere Herzen Dir zuneigen, damit wir Deine Wege gehen. Jahwe, Gott Israels, es gibt keinen anderen Gott außer Dir weder im Himmel noch auf Erden, Du, der Seinen Bund hält. Lasse Deine Augen Tag und Nacht über diesem Tempel, über dieser Stätte wachen, in der Dein Name lebt.»
Als der Jubel zum König aufbrandete, packte ihn die Angst. Wohnte Gott wirklich auf der Erde zusammen mit den Menschen? Wenn sich die Himmel der Himmel als zu klein für Ihn erwiesen, was war dann mit dem Tempel in Jerusalem?
Zwei lächelnde Menschen beschwichtigten seine Furcht.
Der erste war Hiram, der gar prächtig anzusehen in seinem Purpurumhang vor dem ehernen Meer stand.
Die zweite war Königin Nagsara im Prachtgewand links vom Hohenpriester und etwas hinter ihm.
Einer wie der andere wirkten froh und stolz. Beruhigt stieg Salomo die Stufen zu dem großen, zwanzig Ellen hohen Altar hoch, der am hinteren Rand des Vorhofes aufgestellt war.
Der Oberbaumeister, der Hohepriester und die Königin bildeten ein Dreieck, dessen Mitte Israels König war. Um sie herum viele Priester. Schwungvoll riß die Leibwache das große Tor der Umfassungsmauer auf und gab den Pilgern den Weg frei, die jetzt auf den Hof strömten.
Tiefes Schweigen machte sich breit. Alle Augen waren auf Salomo gerichtet, der das Feuer für das Brandopfer entzündete, während die Zuschauer des ‹ersten Mals› den Atem anhielten. Die Flamme, die nie wieder erlöschen würde, schien bis zum Himmel zu steigen.
Ein Priester mit einem Mutterschaf in den Armen stellte sich neben den König. Er schnitt dem Tier die Kehle durch, und sein Blut floß in die Rinnen, die zu den vier Ecken des Altars führten. Die Asche fiel durch einen waagrechten Rost.
Auf ein Zeichen von Salomo hin erschollen Trompeten und gaben den Altar für eine große Schar von Feiernden frei, die Tiere opfern wollten, die alsdann bei einem riesigen Festmahl verzehrt werden sollten. Mehr als zwanzigtausend Ochsen und hunderttausend Schafe sollten zur höheren Ehre Gottes geopfert werden.
Salomo hatte es geschafft. Der Tempel war erbaut. Ein genialer Oberbaumeister, Hiram, hatte dem aberwitzigen Plan eines ins Absolute vernarrten Herrschers Gestalt gegeben.
Salomo weinte vor Freude, als er unbeweglich und allein im Allerheiligsten stand.
Hiram, den die Last der Verbannung und der Tod der Brüder niederdrückten, verkroch sich in Begleitung seines Hundes in die Höhle.
Königin Nagsara, die allein in ihrem prächtigen Gemach im Palast saß, weinte um eine verlorene Liebe.
Kaleb, der Hinkefuß, war berauscht von Fröhlichkeit und Wein und feierte an der Tafel der Reichen, die das Lob Salomos, des Weisen, und Meister Hirams, des Oberbaumeisters, sangen.
Kapitel 45
Von seiner Weihe an wurde der Tempel zum Mittelpunkt Jerusalems. Auf dem Vorhof ging man gern spazieren, plauderte und machte sogar Geschäfte. Niemandem war erlaubt, mit einem Stock auf das Steinpflaster zu schlagen, und alle durften es nur mit bloßen Füßen oder vollkommen sauberen Sandalen betreten. Priester, die ständig umhergingen, überzeugten sich davon, daß kein Geldstück mit an diesen Ort gebracht wurde.
Zadok stellte fest, daß die Unterkünfte, die Meister Hiram auf Befehl Salomos für die Geistlichkeit gebaut hatte, zufriedenstellend ausgefallen waren. Eine große Holzgalerie entlang des Tempels ging auf kleine, helle und gutbelüftete Zimmer. Dort wohnten die Geistlichen, die dem Hohenpriester direkt unterstellt waren und die Arbeit der fünfzehntausend Priester überwachten, die jeden Tag im Tempel Dienst taten. Nach dem morgendlichen Reinigungsbad zogen sie eine Robe aus weißem Leinen an und opferten drei Tiere, darunter auch einen Stier. Sein Blut wurde mit heiligem Öl vermischt und diente dazu, einen neuen Geistlichen zu weihen, der zu einer der achtzig Priesterklassen gehörte, die sich abwechselnd um die heiligen Orte kümmerten. Die Bewerber waren zahlreich und freuten sich auf den Lohn, der dem jeweiligen Amt zustand: Kleidung und reichlich zu essen. Die Zuweisung der verschiedenen Dienste geschah durch das Los. Am beliebtesten war das Verbrennen von Düften, denn diese Aufgabe verlieh das Recht auf Ochsenfleisch und Wein von hervorragender Qualität.
Salomo billigte Zadok eine noch nie erreichte Stellung zu. Der Hohepriester war Kopf einer mächtigen Verwaltung und genoß unübertroffene Ehren. Wurde er dabei nicht nach dem König zum reichsten Menschen des Königreiches?
Der Hohepriester ging Salomo jedoch nicht in die aufgestellte Falle. Der König hatte geglaubt, er könne seine Wachsamkeit einschläfern, wenn er ihn mit Wohltaten überhäufte. Doch die ließen Zadok nicht die einzige Wirklichkeit vergessen, die zählte: Der Herrscher vereinte sowohl die politische als auch die geistliche Macht in seiner Hand. Trotz des Rufs, den Zadok genoß, war er nur ein Helfer, den der Herrscher Israels jederzeit absetzen konnte.
Da der Tempel nun einmal gebaut und das Volk damit zufrieden war, sollte er ihn lieber gut pflegen. Vorausgesetzt, man konnte das verfluchte Dreiergespann beseitigen, das Israel in den Untergang zog: einen ehrgeizigen Oberbaumeister, eine gottlose Königin und einen allmächtigen König.
Die Hütte für die Werkzeuge, die am Feldrain im Schatten eines alten Feigenbaums stand, war groß genug, um drei Bauern Schutz zu bieten. An diesem strahlenden Morgen bot sie nun dem Hohenpriester Zadok, Jerobeam und Elihap Obdach.
«Die Nachforschungen bezüglich des Unfalls in der Gießerei machen Fortschritte», berichtete Salomos Schreiber. «Es soll Verhaftungen geben. Die Schuldigen werden aussagen. Falls der Name Jerobeam zu oft fällt…»
Der frühere Fronvogt in der armseligen Tunika eines Arbeiters hatte sich aus Jerusalem herausgeschlichen, und Elihap hatte es ihm nachgetan. Was Zadok anbetraf, so hatte er die prachtvollen Roben des Hohenpriesters abgelegt und ein schlichtes, braunes Gewand angezogen, das um die Mitte mit einem breiten Gürtel gehalten wurde.
«Nur nicht verzweifeln», riet Jerobeam. «Salomo zählt auf Hiram was die Unterstützung durch eine zuverlässige Bruderschaft angeht, die hebräische und fremdländische Arbeiter vereint. Doch die ist nicht so zuverlässig, wie die beiden annehmen.»