Salomo streckte die Hand aus und schloß sie um den Rubin.
«Dieser himmlische Stein… ist er nicht das Fundament, auf dem sich Gottes Tempel erheben sollte?»
Diese Frage schien Nathan zu überhören.
«Wir haben oft davon gesprochen, mein Lehrer. Ich würde gern die Kapelle aufgeben und ein neues Heiligtum bauen. Mein Vater war unerbittlich gegen diese Idee. Du billigst sie.»
«In der Tat», bestätigte Nathan.
«Viele kleine Tempel über das Land verstreut… das genügt nicht.»
«So ist es», bestätigte der Lehrer.
Salomo staunte. Nathan lächelte.
«Ich habe großen Einfluß auf deinen Vater gehabt. Bei dir jedoch verzichte ich darauf. Ich bin es gewesen, der David daran gehindert hat, in Jerusalem eine Baustelle zu errichten.»
«Und warum?»
«Weil Davids Gebäude aufgrund seiner Sünden zusammengebrochen wäre.»
Dem König blieb keine Zeit, über die Worte seines Lehrers nachzudenken. Kaum hatte er Nathans Bibliothek verlassen, da sprach ihn Banajas an. Der oberste Heerführer war sehr besorgt.
«Gebieter… die drei Söhne eines Stammeshäuptlings bitten, daß du schlichtest! Wenn sie keine Wiedergutmachung bekommen, wollen sie ihre Truppen aufeinander loslassen.»
Das war eine echte Gefahr. Wenn Salomo bei seinen Schlichtungsversuchen keinen Erfolg hatte, gab es Dutzende von Toten. Und er wäre gezwungen, seine eigenen Soldaten gegen die Aufrührer zu schicken.
«Rufe sie auf dem Platz zusammen. Dort will ich richten.»
Banajas war fassungslos. Ein Gericht! David hatte dieses Verfahren nicht mehr anzuwenden gewagt. Er hätte versucht, die Streithähne zu besänftigen, und im Fall eines Fehlschlags hätte er eine Strafexpedition gegen sie geschickt.
Der Hof war versammelt, um an der Urteilsverkündung teilzunehmen. Viele setzten auf ein Scheitern des Königs, was ihn zur Aufgabe des Throns verurteilen würde. Vereitelte Hoffnungen wurden wieder wach.
Salomo saß auf einem Faltstuhl aus Querhölzern mitten auf dem Platz gegenüber von drei jungen Leuten, die in ihren Armen den Leichnam eines alten Mannes mit schwarzem Bart trugen.
«Was wollt ihr?» fragte der König.
«Das, was mir zusteht», erwiderte der Älteste der drei Brüder. «Mein Vater hat mir auf dem Totenbett enthüllt, daß nur einer von uns dreien sein echter Sohn ist und daß er diesem all seine Habe vermacht. Er hat den Geist aufgegeben, ehe er sagen konnte, wer es ist. Ich weiß, daß ich sein Sohn bin. Diese beiden Hochstapler fechten meine Rechte an.»
«Wer kennt schon die Geheimnisse der Toten», bestätigte der Jüngere. «Teilen wir also.»
«Ich weigere mich», sagte der Dritte. «Wir müssen den Willen meines Vaters achten.»
«Übergebt den Leichnam eures Vater Banajas», befahl Salomo. «Er soll ihn dort hinten auf dem Platz an eine Säule binden und jedem von euch einen Pfeil geben. Ihr schießt auf den Leichnam. Wer am besten trifft, ist der Erbe.»
Beifälliges Gemurmel. Die drei Bittsteller waren gezwungen anzunehmen.
Der Älteste kam am schnellsten zur Sache. Kaum hatte sich Banajas von der sterblichen Hülle entfernt, da schoß er schon. Der Pfeil bohrte sich in die Hand. Der Jüngere, der sich über diesen mittelmäßigen Schuß freute, nahm sich Zeit mit dem Visieren. Der Pfeil fuhr in die Stirn des Toten. Ein vollendeter Schuß. Der Jüngste hob den Bogen und zielte auf sein Herz, warf jedoch die Waffe zornig zu Boden.
«Das ist unwürdig», protestierte er. «Ich mache mich nicht zum Mörder meines Vaters, selbst wenn er nur noch eine Leiche ist. Lieber bin ich arm.»
Und als er den Platz mit großen Schritten verlassen wollte, rief Salomo laut hinter ihm her:
«Bleib hier und sei ein würdiger Erbe des Stammeshäuptlings. Nur du kannst der echte Sohn sein.»
«Es lebe König Salomo!» rief Banajas.
Und sogleich fielen hundert weitere Stimmen ein.
Kapitel 5
Der Oberhofmeister, der das Leben am königlichen Hof zu regeln hatte, war fertig mit den Nerven. An vier aufeinanderfolgenden Tagen hatte er sich geweigert, den Höflingen, die um eine Audienz ersucht hatten, die Türen zu den Gemächern des Herrschers zu öffnen. Die Proteste wurden immer zahlreicher, schärfer und immer lauter. Doch der Oberhofmeister, ein schmerbäuchiger und leutseliger Mann, ließ sich nicht erweichen. Er, der das königliche Siegel verwahrte, unterhielt sich jeden Morgen mit dem Herrscher, der ihm die Namen der Personen gab, die er empfangen wollte. Während der Audienzen wartete der hohe Würdenträger dann geduldig an der Tür. Zuweilen waren die Tage lang und eintönig. Doch das Amt erweckte so viel Neid, daß sein Träger die Unannehmlichkeiten gern in Kauf nahm.
Salomo handelte gegen seine Gewohnheiten, als er sich in sein Arbeitszimmer einschloß, wohin ihm der Oberhofmeister Listen mit den Namen von Beamten brachte, die die Verwaltung des Landes leiteten und die Salomo mit größter Sorgfalt prüfte.
Wie erklärte sich diese Haltung, außer daß der König zutiefst verstört war? Der Oberhofmeister selbst machte sich nichts vor. Der neue König hatte beschlossen, die Hierarchie umzugestalten. Der Herold, ein ehemaliger Bauer mit gebräunter Haut, der sein Wohlergehen David verdankte, teilte seine Meinung. Er hatte die Aufgabe, dem König zu sagen, was im Land vor sich ging, und hatte die offiziellen Zeremonien zu regeln. Er machte sich Sorgen um seine Zukunft. Salomos Schweigsamkeit verhieß nichts Gutes.
Während sich Jerusalem in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne sonnte, rief Salomo den Oberhofmeister und den Herold zu sich. Beklommen erschienen die beiden Würdenträger gemeinsam vor dem Herrscher, um den herum etliche aufgerollte Papyri lagen. Der König sah überhaupt nicht müde aus.
«Die von meinem Vater ernannten Beamten bleiben im Amt», teilte Salomo ihnen mit. «Der Palast hier ist ordnungsgemäß verwaltet. Dazu kommt jetzt noch ein Dutzend Hofmeister, die sich im königlichen Haushalt abwechseln. Die sollen jeden Tag Gerste und Stroh für Pferde und Zugtiere ausgeben. Sie sollen Mehl holen und zehn Mastochsen, zwanzig freilaufende Ochsen und hundert Hammel ins Schlachthaus führen. Meine Köche wachen dann darüber, daß die Nahrung gerecht verteilt wird. Du, Herold, verkündest diese Beschlüsse morgen früh öffentlich.»
Strahlend entfernte sich der Würdenträger. Er würde seinen Posten behalten.
Der Oberhofmeister war besorgt, traute sich aber dennoch, eine Frage zu stellen.
«Gebieter, wen möchtest du morgen empfangen?»
«Einen einzigen Menschen: Elihap.»
«Ich befürchte, dein Wunsch…»
«Das ist kein Wunsch», berichtigte Salomo, «sondern ein Befehl. Elihap gehört zur Dienerschaft dieses Palastes. Er dient Israels König.»
«Es ist nur… Elihap stammt aus Ägypten und…»
«Weiter.»
«Dein Vater hat das zweifellos übersehen und hat ihn eingestellt, weil er mehrere Sprachen spricht.»
«Das ist doch etwas.»
«Zweifellos, Gebieter, aber Elihap hat einen schweren Fehler gemacht.»
«Und der wäre?»
«Als sein Vater kurz vor David gestorben ist, wollte er ihn nach ägyptischem Brauch begraben. Wir haben protestiert und…»
«Und habt ihn sogar bedroht», schloß der König.
«Er muß unsere Abmahnung falsch aufgefaßt haben.»
«Wo ist er im Augenblick?»
«Elihap ist geflohen», gestand der Oberhofmeister.
«Er hält sich versteckt. Du und der Herold, ihr habt den Auftrag, ihn vor dem Morgengrauen zu finden.»
«Majestät…»
Salomos Blick verbot jede weitere Entgegnung.