Doch erst als er die beiden ungestümen Pferde musterte, die seinen Streitwagen gezogen hatten, dämmerte ihm die Lösung. Er spannte eines aus, bestieg es und galoppierte davon. Als er zum Landhaus zurückkehrte, hielt er den Becher an die Flanke des Pferdes und ließ dessen Schweißtropfen hineinrinnen.
Die Königin von Saba öffnete die rechte Hand. Auf der Handfläche blitzte ein Smaragd.
«Sieh dir diesen Edelstein an, König von Israel. Er ist von zwölf fast unsichtbaren Spiralen durchzogen. Sind deine Finger so geschickt, daß sie einen Faden durchziehen können?»
Salomo nahm den Schatz entgegen. Kein Handwerker, auch der geschickteste, hätte Erfolg gehabt. Er drückte den Stein an die Brust und ging auf einem trockenen, steinbestreuten Weg in Richtung Obsthain. Er hatte sich schon oft unter einem Baum innerlich versenkt und dabei Antwort auf die kniffligsten Fragen gefunden. Er schritt zwischen den Ölbäumen dahin, streifte den Stamm einer Sykomore und entdeckte den Retter in der Not, zu dem es ihn unbewußt gezogen hatte, nämlich einen prächtigen Maulbeerbaum. Dann wählte er sorgsam einen Platz, wo er den Smaragd ablegte, und gesellte sich wieder zu Balkis.
«Ich habe den Smaragd einer Seidenraupe anvertraut, die ihren Faden durch die zwölf Spiralen spinnen und den im Edelstein geschriebenen Tierkreis neu erschaffen wird. Hast du mich auf diese Weise befragen wollen, ob ich die Lehren des Kosmos auch stets befolge?»
Die Königin lächelte.
«Dein Ruf hat nicht getrogen. Du besitzt wirklich große Weisheit.»
«In Wahrheit eine armselige Weisheit! Ich habe die Natur beobachtet wie der einfachste Bauer. Mein Wissen ist groß, behaupten die Arglosen. Doch es ist nichts als eine Ansammlung von Kenntnissen, die belasten wie ein zu voller Schlauch. Dieses Wissen verschafft weder Glück noch Weisheit. Es ist wie ein grauer, niedriger Himmel. Zuviel Wissen verursacht Schmerz und Kummer; wer es unaufhörlich vermehrt, wird darüber zum Toren. Wer würde noch die Gesetze der Schöpfung bemerken? Welcher Gelehrte würde Gott noch jenseits der Form erkennen, jenseits selbst des Lichts, in dem er sich verbirgt? Ich bin kein Weiser, Balkis. Ich habe Abhandlungen über die Geheimnisse der Pflanzen, der Mineralien, der Tiere und der Steine geschrieben. Keiner kennt das Wort des Windes oder die Botschaft der unterirdischen Geister besser als ich. In den kommenden Jahrhunderten werden Zauberer Salomos Schlüssel verwenden, mit dem sie das Tor zu den Mysterien der Natur öffnen. Dadurch werden sie an meiner Macht teilhaben. Aber das alles ist nur eitel. Was könnte ich mir darüber hinaus wünschen? Alle bestätigen mir, daß ich große Macht in Händen halte, alle bemerken, daß ich die Kunst des Heilens und der Beschwichtigung der Seelen ausübe, alle bewundern meinen Erfolg bei der Durchsetzung meiner Ziele, o ja. Nichts wird von diesen falschen Reichtümern übrigbleiben. Sie sind nur ein Trugbild. Ich bin kein Weiser, Balkis, aber ich brauche deine Liebe.»
Die Haubenlerche fiel aus dem Himmel und setzte sich auf die rechte Schulter der Königin von Saba. In ihrem Gesang konnte die junge Frau Worte aus einem uralten Gedicht ausmachen, in dem es um Liebesgefühle ging: «Bis der Tag kühl wird und die Schatten schwinden, will ich ins Myrrhengebirge gehen und zum Weihrauchhügel. Dort wird er auf dich warten und dich verwirren.»
Es gab keinen schöneren Mann als Salomo. Es gab keinen von gewandterem Auftreten. Auch wenn er sich erniedrigt hatte und Qualen litt, die er verheimlichte, so war er noch immer der edle Herrscher, den die Stürme zwar durchschütteln, aber nicht zerstören konnten. Was Balkis verspürte, war mehr als die Bewunderung einer Königin für einen König. Sich in seine Arme zu stürzen, sich an ihn zu schmiegen, sich ihm hinzugeben… warum verbot es ihr Schicksal, daß sie sich wie eine von Leidenschaft berauschte Frau benahm?
«Du bist die Nachfahrin des berühmten Sem, des Vorvaters der Hebräer und der Araber», rief Salomo ihr ins Gedächtnis. «Wenn du einwilligst, mich zu heiraten, erschaffen wir die verlorengegangene Einheit aufs neue. Und wir halten für immer das Gespenst des Krieges fern.»
«Du irrst sehr», hielt sie dagegen. «Das Königreich, das wir schaffen würden, würde zuviel Begehrlichkeit wecken. Unsere Nachbarn würden sich zum Kampf gegen uns vereinen. Und wer von uns würde es hinnehmen, sich dem anderen zu unterwerfen? Salomo, du darfst nicht träumen. Dazu hast du kein Recht.»
«Ich habe vom Frieden geträumt, Balkis, und ich habe ihn errungen. Ich habe vom Tempel geträumt, und er ist gebaut. Ich habe von der Liebe geträumt, und da bist du gekommen. Warum sollte ich diese Hoffnung begraben?»
«Saba ist so weit…»
«Denk darüber nach, bitte.»
Balkis war im Begriff nachzugeben, als sie auf der Straße eine ockergelbe Staubwolke erblickte. Ein Reiter, der zur Leibwache des Königs gehörte, tauchte auf. Atemlos wandte er sich an König Salomo und sagte gehetzt:
«Verzeihung, Majestät… aber deine Mutter liegt im Sterben.»
Salomo hatte den Wunsch seiner Mutter befolgt und Bathseba seit dem Tag nicht wiedergesehen, als sie beschlossen hatte, den Hof zu verlassen und sich in ein Haus am See Genezareth zurückzuziehen, wo David sie geliebt und darüber einen Sommer lang die Anforderungen seines Amtes vergessen hatte.
Bathseba auf ihrem Sterbebett wiegte sich in leidenschaftliche Erinnerungen, in denen der König mit der Lyra sie mit seinen Gedichten bezauberte.
Als Salomo an ihr Lager trat und niederkniete, damit er seiner Mutter die Hand küssen konnte, machten die Todesqualen der alten Königin aufs neue zu schaffen.
«Endlich, mein Sohn… ehe ich ins Reich der Schatten gehe, wollte ich dich ein letztes Mal sprechen.»
«Warum diese düsteren Gedanken?»
«Eine Königin weiß, wann sie stirbt, und empfängt den Tod wie einen wohlwollenden Freund. Aber das Herz blutet mir deinetwegen.»
«Welchen Schmerz habe ich dir bereitet?»
«Du vernachlässigst die Frau, die dich liebt. Du suchst nach Freuden, die sich in Traurigkeit umkehren werden.»
«Ich will nichts als Frieden, Mutter.»
«Den wird die Königin von Saba nicht festigen. Nagsara hat ihn dir gebracht. Du machst einen großen Fehler, wenn du sie nicht achtest. Und jetzt geh, ich muß mich bereit machen. Sei gerecht, Salomo. Sei deines Vaters würdig.»
Balkis hatte die Nacht lieber in dem Landhaus verbracht. Die Sonne war bereits aufgegangen, als es an die Tür klopfte. Die junge Frau lief und öffnete, denn sie erwartete Salomo, von dem sie die ganze Nacht geträumt hatte. Doch es war nur ein Grünspecht mit rotem Kopf, der pfeilgeschwind davonflog.
Enttäuscht trat sie barfuß in den Morgentau und freute sich an dem klaren Morgen und dem Gesang der Vögel. Konnte sie sich Salomos Anträgen noch länger verweigern? Wenn sie den König von Israel heiratete, würde Saba nur noch ein Anhängsel Israels sein. War das nicht Verrat am Land ihrer Vorfahren? War Salomos Liebe ein solches Opfer wert?
Als sie Frauen sah, die Wasser schöpften, ging sie ins Haus zurück und hob einen Krug auf die Schulter. In eine schlichte Tunika gekleidet, gesellte sie sich zu ihnen. Zunächst waren sie abweisend, doch dann gewann Balkis sie mit ihrem Lächeln, und sie bezogen sie in ihr Gespräch ein. Da sie allein und ohne Gefolge kam, mußte sie eine Dienerin sein.
Die Königin hörte sich ihre Klagen bezüglich der harten Feldarbeit, der Heftigkeit des Chamsin und der Voraussagen eines bitterkalten Winters an.
«Was ist in Jerusalem los?» fragte sie. «Empfängt man dort nicht eine Fremdländerin mit allen Ehren bei Hofe?»
«Die Königin von Saba… Man sagt, daß sie Salomos Herz erobert hat.»
«Denken sie an Heirat?»
«Das wäre ein Unglück!» bekräftigte eine Bäuerin. «Nagsara ist Salomos Gemahlin, Nagsara, die Ägypterin, und keine andere! Das Volk hat sie angenommen. Wenn der König weise ist, so gibt er diesem augenblicklichen Verlangen nicht nach.»