So vergingen einige Jahre, ohne daß der König zu Gericht saß. Die Regierung des Königreiches hatte er einer Schar Beamter unter Elihaps Leitung überlassen. Der ernste und arbeitsame Schreiber des Königs ersetzte mittels seiner Begabung den Herrscher und fragte nur in äußerst heiklen Angelegenheiten um Rat. Mit seiner Zustimmung erhöhte Elihap die Zahl der Soldaten, nachdem der Libyer Seschonq nach Siamuns Tod den ägyptischen Thron bestiegen hatte. Und der neue Pharao hatte Jerobeam unverzüglich ermutigt, einen Krieg gegen Israel vorzubereiten. Doch der Libyer ließ Vorsicht walten, er fürchtete, einen schweren Rückschlag hinnehmen zu müssen. Daher beließ er denn doch lieber alles beim alten.
Die zahlreichen Ehefrauen des Königs, die aus den unterschiedlichsten Ländern stammten, forderten Tempel und Altäre, damit sie zu ihren Lieblingsgottheiten beten konnten, und zunächst weigerte sich Salomo. Als sie sich zusammenschlossen und sich ihm allesamt verweigerten, gab er nach. Auf Hügeln, auf Berggipfeln, in Tälern, in Städten wie in Dörfern erhoben sich heidnische Heiligtümer, zu denen Salomos Ehefrauen zum Beten kamen. Selbst die abgeschiedensten Orte blieben nicht verschont, selbst dort, wo die Bundeslade gestanden hatte, wo die Patriarchen Jahwes Stimme gehört hatten. An den Quellen der Flüsse, an den Ufern des Meeres, am Rand der Wüste wurden unbekannte Götzen verehrt, die in Erdhütten hausten, im Vorbau von Holzgebäuden oder in Alleen aus gräßlichen Tieren thronten.
Salomo glaubte nicht mehr an Jahwe. Er betete zu jeder dieser fremdländischen Gottheiten in der Hoffnung, sie könnte ihm die Ruhe geben, die er nicht mehr in Lustbarkeiten und im Rausch fand. Das Volk wehrte sich stumm. Salomo verging sich gegen das Gesetz des Einen Gottes, doch das Land blieb reich und blühend und genoß einen dauerhaften Frieden, die Quelle allen Glücks. Befahl der König nicht den Geistern? Besaß er nicht mehr Wissen als irgendein anderer Mensch auf Erden? Verfaßte er nicht die schönsten Gedichte, die von den berühmtesten Sängern an den prächtigsten Höfen zur Lyra vorgetragen wurden? Wurde Salomos Weisheit nicht von den Mächtigsten bewundert, und sicherte sie Israel nicht das Glück?
Als er alt wurde, übernahm Salomo wieder die Zügel der Regierung. Nach all den Lustbarkeiten betäubte er sich nun mit Arbeit. Elihap wurde eine niedrigere Stellung zugewiesen, und der Herrscher prüfte jedes Dokument, empfing jeden Beamten, regelte jede Einzelheit der Verwaltung. Seine Klarsicht und Klugheit führten zu zahlreichen Verbesserungen in der Verwaltung der Provinzen und im Handel mit fremden Ländern. Die Schatzkammer füllte sich. Jeder Hebräer hatte genug zu essen.
Jede Geburt wurde von den Familien als Segen aufgefaßt und begeistert gefeiert, und man dankte dem HERRN, daß man unter der Herrschaft des gütigsten aller Herrscher leben durfte.
Der alterslose König war alt geworden, doch das hatte seiner Schönheit keinen Abbruch getan. Auf seinem vollendeten Antlitz gab es nur eine einzige, kaum sichtbare Runzel. Es herrschte Frieden, das Volk war glücklich, das Land angesehen… In seiner Rolle als Herrscher hatte Salomo nie Schiffbruch erlitten. Wenn er seine Urteile sprach, so nie zum Schaden eines seiner Untertanen.
Salomo war allein. Er hatte keinen legitimen Sohn, keinen Freund, keinen Ratgeber. Niemand verstand ihn. Niemand versuchte in die Geheimnisse seines Herzens einzudringen. Der König begehrte nicht mehr gegen Jahwe auf, er betete zu keiner Gottheit mehr. Seine tägliche Nahrung war die Verzweiflung. Gerechte wie Bösewichter, Mensch wie Tier, alles strebte dem gleichen Nichts zu? Alle kamen aus dem Sternenstaub und kehrten in den Staub der Erde zurück.
Der, dessen Weisheit so gepriesen wurde, stieß sich an einer undurchdringlichen Mauer: Gottes Werk. Er hatte keines seiner Rätsel lösen können und wußte seit langem, daß das auch keiner schaffen würde. Alles war eitel.
Als der Frühling mit Blüten kam, erkannte Salomo, daß es sein letzter war. Er verließ den Palast und ging zum Tempel, den er seit so vielen Jahren nicht mehr betreten hatte. Allein im Allerheiligsten hörte er zwar nicht Gottes Stimme, doch er sah in die Zukunft.
Eine Zukunft, in der der Frieden zerbrach, in der sich die Stämme Israels aufs neue zerfleischten, in der blutlüsterne Heere in das Land einfielen, in der Jahwes Heiligtum geplündert und zerstört wurde. Eine Zukunft, in der das Gelobte Land von schwachen Männern regiert wurde, die eine erbärmliche Politik betrieben und nur danach trachteten, ihre niedrigsten Instinkte zu befriedigen. Eine Zukunft, in der sich das Volk nicht unter Feigen- und Ölbäumen ausruhte und freie Zeit hatte. Salomo erkannte, daß sein Werk seinen Tod nicht überleben würde. Nichts würde ihn überleben.
Der König legte Krone und Zepter und seinen goldbestickten Umhang ab. Er stieg den Pfad hinunter, der zum Kidron-Tal führte, und schlug den Weg in Richtung Wüste ein. Unterwegs brach er einen Ast ab, der ihm als Wanderstab diente. Die Frühlingssonne brannte heiß auf seiner Stirn, und schon bald taten ihm die Füße weh. Doch er ging weiter, immer weiter wie der demütigste aller Pilger.
Salomo hatte beschlossen, in die Einsamkeit zu gehen, bis Gott ihm ein Zeichen schickte. Schließlich wußte er seit kurzem, daß Erfolg und Mißerfolg genauso eitel waren wie Freude und Schmerz. Für ihn gab es nur noch die Vergangenheit, die sich bereits an einem zerstörten Horizont verflüchtigte. Für sein Volk würde es noch Jahre der Fülle und des Friedens geben, die eine Spur in der Geschichte Israels hinterlassen würden. Vielleicht waren die ja Grund zu einer neuen Friedensära, die ferner war, als es sich der König vorstellen konnte.
Jerusalems Höhen waren nicht mehr zu sehen, der Tempel war verschwunden. Salomo war zwar fast am Ende seiner Kraft, doch er schritt weiter aus. Er hatte kein Ziel, keinen Grund mehr zu kämpfen, er war nur verzweifelt auf der Suche nach einer unerreichbaren Weisheit, die er so gern durchschaut, ja sogar errungen hätte.
Als sein Herz nicht mehr mitmachte, blieb der alte König unter einer blühenden Akazie stehen. Gott hatte nicht zu ihm gesprochen, doch in der klaren Frühlingsluft erkannte er die Umrisse eines riesigen Gesichtes, das so groß war wie die Erde und so hoch wie der Himmel, das Gesicht Meister Hirams, ernst und lächelnd und geprägt von einer friedlichen Weisheit.
Der Oberbaumeister vergab ihm seinen Verrat. Er wartete auf der anderen Seite des Todes. Salomo lehnte sich an die Akazie und entschlummerte im Licht.
Bibliographie zum Roman
Salomo war ein Zeitgenosse von Pharao Siamun, des ‹Sohns Armins› und des ‹Geliebten der Maat›. Siamun, der der einundzwanzigsten Dynastie in Ägypten angehörte, regierte von 980 v. Chr. bis 960 v. Chr. Er hatte seine Hauptstadt in Tanis, im Delta. Als Besieger der Philister erkannte er genau wie Salomo, daß es im Vorderen Orient keinen dauerhaften Frieden geben würde, wenn es nicht zu einem echten Bündnis zwischen Israel und Ägypten kam. Zu dieser Zeit siehe Alberto R. Green, Salomo and Siamun: A Synchronism between Early Dynastic Israel and the Twenty-First Dynasty of Egypt, Journal of Biblical Literature, 97 (1978), S. 353-367.
Salomo war ein echter Pharao. Er ließ sich beim Regieren Israels von der ägyptischen Monarchie inspirieren. Siehe insbesondere M. Gavillet, L’Evocation du roi dans la littérature royale égyptienne comparée a celle des Psaumes royaux et spécialement: le rapport roi-Dieu dans ces deux littératures, Bulletin da la Société d’Egyptologie de Genève 5 (1981), S. 3-14 und 6 (1982), S. 3 – 17; A. Malamat, Das davidische und salomonische Königreich und seine Beziehungen zu Ägypten und Syrien. Wien, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Sitz. 407.