4. KAPITEL
Philippos schreckte aus dem Schlaf auf und tastete unruhig neben sich. Er war allein. Dunkel erinnerte er sich, wie er Neaira verlassen hatte und zum Tempel zurückgekehrt war. Den ganzen Rückweg über hatte er das Gefühl gehabt, verfolgt zu werden. Selbst im Traum hatte man ihn noch gejagt. Er war auf einem weiten Feld gewesen. Es war Nacht, und der Sturmwind fegte vom Meer heran. Auf dem Wind reitend waren Frauen mit Vogelschwingen und Adlerkrallen statt Füßen gekommen. Harpyien! Sie wollten ihn vom Boden reißen, mit sich in die Lüfte heben und davontragen.
Der Nachthimmel war von ihren schrecklichen, heiseren Schreien erfüllt gewesen. Diese Schreie waren es, die ihn hatten aufwachen lassen. Unmenschlich und ...
Im hinteren Flügel der Villa ertönte ein langgezogenes Kreischen. Immer höher und schriller wurde das Geschrei. Philippos preßte sich die Hände auf die Ohren. Er träumte doch nicht mehr! Er war wach ... In Sicherheit, in seiner Kammer und im Bett. Er hatte hier keine Harpyien zu fürchten! Was immer dort vor sich ging, er hatte nichts damit zu tun! Er würde sich jetzt hinlegen, die Wolldecke über den Kopf ziehen, sich die Ohren zuhalten und wieder schlafen.
Das Geschrei war zu einem Wimmern geworden, das fast völlig vom Wüten des Sturms überlagert wurde. Aus dem Atrium erklang das Geräusch von Sandalen. Es kam näher . Bis zu seiner Tür!
Ein junger Sklave mit einer Fackel in der Hand trat ins Zimmer! »Schnell, Herr, der Pharao befiehlt, daß Ihr zu ihm kommt. Es ist wichtig!«
Wieder erklang das unmenschliche Schreien. Es war wie auf den Schlachtfeldern, wo Männer mit abgebrochenen Speerschäften im Bauch jämmerlich verreckten. Dutzende hatte er so sterben sehen. Man konnte ihnen nicht mehr helfen.
Manche schrien sich schier die Lunge aus dem Leib, bis sie schließlich in sich zusammensanken, andere wimmerten leise vor sich hin. So ein Tod konnte Stunden dauern. Es hing ganz davon ab, wie stark man war und wie verbissen man sich an sein Leben klammerte. Gewonnen hatte diesen Kampf jedoch nie jemand.
Das Kreischen verebbte erneut. Der Sklave trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Herr, bitte . Der Neue Osiris will Euch sehen. Es eilt!«
»Was ist denn los?«
»Keiner weiß es! Der Pharao läßt niemanden in seine Gemächer. Von dort kommen die schrecklichen Schreie. Er hat mir durch die verschlossene Tür befohlen, Euch zu holen.«
Philippos fluchte leise. Was mochte dort unten vor sich gehen? Schon zweimal war er mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen worden, damit er sich um Verletzungen kümmerte, die sich Frauen zugezogen hatten, die an den wilden Orgien des Herrschers teilnahmen. Je geringer die Aussichten wurden, noch einmal nach Ägypten zurückzukehren, desto ausschweifender wurden die Feste des Königs. Ptolemaios gab sich manchmal recht eigenartigen Gelüsten hin. Aber solche Schreie wie heute ...
Wie zur Antwort auf seine Gedanken erklang erneut das unheimliche Kreischen. Was zum Henker mochte da vorgefallen sein?
»Bitte, Herr. Der Neue Osiris haßt es zu warten .«
»Ja, ja!« Philippos schob die Wolldecke zur Seite, schlüpfte hastig in eine Tunica und griff nach der Ledertasche mit seinen chirurgischen Instrumenten und dem Verbandszeug.
Der Sklave führte den Arzt durch das Atrium in den hinteren Teil der großen Villa. Vor den Gemächern des Königs drängten sich einige Sklaven und Höflinge. Auch Samu war dort. Die Priesterin hatte tiefe Ränder unter den Augen und war so bleich wie eine Toga candida. Allem Anschein nach hatte sie diese Nacht nicht allein in Morpheus Armen verbracht.
Der Sklave klopfte energisch gegen die rot gestrichene Tür, hinter der jetzt leises Schluchzen erklang. »Göttlicher Pharao, ich bringe den Arzt!«
Die Tür öffnete sich einen Spalt, und das Gesicht von Potheinos erschien. »Schick ihn rein!« Der Blick des Eunuchen fiel auf Samu, und er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Priesterin. »Du kommst am besten auch gleich!«
Philippos schob sich durch die Tür und achtete instinktiv darauf, daß er den Spalt mit seinem Körper so weit ausfüllte, daß die Höflinge nicht hineinschauen konnten. Was auch immer in den Gemächern des Königs geschehen sein mochte, es war offensichtlich, daß der Hofstaat davon zumindest zunächst nichts wissen sollte.
Potheinos führte sie beide durch den kleinen Raum, in dem sie sich erst am vorigen Abend mit dem Herrscher beraten hatten, und ging weiter bis in das Schlafgemach des Königs. Ptolemaios saß bleich und zitternd auf einem Lager aus Kissen und Decken. Mit beiden Händen hielt er eine Flöte umklammert, so als wolle er sich an dem zierlichen Instrument festhalten.
Er war fast völlig nackt. Ein Kranz aus Weinlaub hing schief in seinem strähnigen Haar, und sein Gesicht war auf seltsame Art geschminkt. Vor ihm auf dem Boden lag Thais. Sie krümmte sich vor Schmerzen und hielt die Hände auf ihr Gesicht gepreßt. Einen Augenblick lang war Philippos versucht, den Herrscher zu fragen, was bei den Göttern er mit der Hetaire gemacht hatte, doch der Arzt beherrschte sich. Es stand ihm nicht zu, einen König und Gott nach seinen Vorlieben im Liebesspiel zu fragen.
Samu kniete schon an der Seite der Frau. Sie versuchte, die Arme der Hetaire zur Seite zu drücken, um ihr ins Gesicht zu sehen. Philippos kam ihr zur Hilfe. Er legte seine lederne Tasche in Griffweite und flüsterte leise. »Es wird wieder gut. Wir werden dir helfen, Thais. Du ...« Die Worte blieben dem Arzt im Hals stecken. Erst jetzt erkannte er, wie die Hetaire gekleidet war. Sie trug den kurzen Chiton einer Artemispriesterin und dazu flache Sandalen. Sie hatte sogar deren Art, sich zu schminken und die Haare zu frisieren, nachgeahmt.
Wenn man sie nicht kannte, mochte man sie durchaus für eine Priesterin des Heiligtums halten.
Erschrocken blickte der Arzt zu Samu. »Hast du gesehen, wie .«
»Ja.« Die Isispriesterin nickte knapp. »Wir haben jetzt anderes zu tun.« Sie hatte diese Worte geflüstert, doch jetzt hob sie ihre Stimme. »Sieh dir ihr Gesicht an!« So wie Buphagos liefen auch der Hetaire blutige Tränen aus den Augen.
»Was ist . mit mir?« Thais Stimme war kaum mehr als ein Hauch.
Philippos beugte sich zu ihr hinab und strich ihr sanft über die Stirn. »Die Priesterin meint nur, daß deine Schminke verlaufen ist. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wir werden dir helfen und dir .«
»Es tut . so weh .«
»Ich werde dir etwas geben, das die Schmerzen vertreibt.« Philippos griff nach seiner Tasche und holte ein kleines Gefäß aus Alabaster hervor.
»Was willst du ihr geben?«
Der Arzt warf der Isispriesterin einen zornigen Blick zu. Sie sollte endlich aufhören, sich in seine Therapien einzumischen.
»Mondtränen. Ein Kügelchen, so groß wie eine Erbse. Es wird ihre Schmerzen vertreiben. Sie wird einschlafen.«
»Du weißt .« Ausnahmsweise lag kein Vorwurf in der Stimme der Priesterin. Sie klang traurig und müde.
»Ja.« Philippos wußte sehr gut, daß Thais wahrscheinlich nicht mehr erwachen würde. Im Schlaf würde ihr Thanatos begegnen und sie mit sanftem Flügelschlag in den Hades hinabgeleiten. Die Maekonos-Pflanze, deren milchigweißen Saft man die Tränen des Mondes nannte, war dem Todesgott geweiht. Er würde Thais freundlich empfangen.
Mit einem Schrei bäumte sich die Hetaire auf und riß sich los.
Wieder preßte sie beide Hände auf die Augen. In Krämpfen zuckend wand sie sich hin und her.