»Hilf uns und halt sie fest!« herrschte Samu Potheinos an, der untätig neben ihnen stand. Die Priesterin versuchte, Thais zu fassen zu bekommen.
Philippos hatte inzwischen aus dem geronnenen und mit Honig versetzten Maekonos-Saft, den er in dem AlabasterTiegel verwahrte, ein kleines Kügelchen gedreht.
Potheinos und Samu war es gelungen, die Hetaire wieder zu Boden zu drücken. Vorsichtig öffnete der Arzt dem Mädchen den Mund und schob ihr die Kugel unter die Zunge. Schwarzrote Tränen aus Blut und Augenschminke rannen ihr zwischen den Fingern hindurch.
»Es tut so . weh .«
»Gleich wirst du schlafen. Isis, die Zauberreiche, wird den Schmerz von dir nehmen und dir schöne Träume schenken.«
Samus Stimme klang sanft und vertrauenerweckend, so als sei jedes Wort wahr, das sie sprach. Ein wenig beneidete Philippos sie darum. Ihm fehlte die Gabe, Sterbenden mit schönen Lügen ihren letzten Weg zu erleichtern. Aber vielleicht glaubte die Priesterin ja wirklich, was sie sagte?
Ein Zittern durchlief den Körper der Hetaire. Ihre Hände glitten ihr vom Gesicht. »Es ist ... so kalt ...« Philippos nahm ihre Rechte und rieb den Handrücken. Die Finger des Mädchens waren tatsächlich kalt. Das Rot unter ihren Nägeln hatte sich dunkel verfärbt. Es würde nicht mehr lange dauern .
»Ich will . noch nicht . sterben . Bitte . jagt sie weg. Sie sollen nicht . näher kommen .«
Thais Finger verkrampften sich. Sie hatte die Augen jetzt weit aufgerissen und sah Philippos direkt ins Gesicht. Der Arzt konnte ihrem Blick nicht standhalten. Er hatte die überhebliche Hetaire nie gemocht, doch ein solches Ende hatte sie nicht verdient.
Er war zu weich! Er hatte schon Hunderte Männer sterben sehen, und doch hatte er nie gelernt, den Tod hinzunehmen.
»Philip . pos . bitte . « Die Stimme des Mädchens war kaum noch zu hören. Ihr Griff löste sich. Sie sank zurück. Fassungslos starrte der Arzt in ihr blasses Gesicht. Was hatte sie getan? War es, weil sie ein Priesterinnenge-wand angelegt hatte, um ihren König zu erfreuen? War das Grund genug für Artemis gewesen, sie mit ihren unsichtbaren Pfeilen niederzustrecken? Thais war jung und dumm gewesen. Kannte die Göttin denn keine Gnade?
»Anubis hat sich jetzt ihrer angenommen. Du kannst ihr nicht mehr helfen.« Samu löste sanft die Hand der Toten aus seinem Griff.
Philippos schluckte. Er wollte etwas sagen, doch brachte er kein Wort über die Lippen.
Samu war überrascht, wie betroffen der Grieche vom Tod der Hetaire war. Es herrschte bedrückende Stille in dem Raum. Schließlich war Ptolemaios der erste, der die Sprache wiederfand. »Woran ist Thais gestorben, Priesterin?«
»An Eurem Hochmut, göttliche Majestät. Sie hat Artemis herausgefordert, um Euch zu gefallen. Seht sie Euch an! So wie Buphagos hat sie keine sichtbaren Wunden davongetragen. Die grausame Göttin von Ephesos hat Thais gerichtet, und ich .«
»Genug, Weib!« fiel ihr Potheinos ins Wort. »Wie kannst du es wagen, dem Pharao Vorhaltungen zu machen. Wir müssen nun besonnen vorgehen! Dieser Todesfall kann uns allen zum Verhängnis werden. Wir müssen um jeden Preis verhindern, daß bekannt wird, wie Thais gestorben ist und welche Kleider sie dabei getragen hat. Zieh sie aus, Philippos! Und du, Samu, wasch ihr das Gesicht! Sie soll aussehen, als würde sie schlafen.«
Ptolemaios räusperte sich leise. »Es ist nicht nötig, daß du an unserer Stelle eine aufsässige Priesterin maßregelst, Potheinos. Und was dich angeht, Samu, so befehlen wir dir, bis zur Mittagsstunde einen Weg zu ersinnen, wie wir den Tod dieser Hetaire erklären können. Schaffst du dies nicht, so werden wir dich noch heute vom Hof verbannen und nach Ägypten zurückschicken. Wir werden dafür sorgen, daß du nie wieder auch nur in die Nähe unserer Tochter Kleopatra gelangst. Wir wissen sehr gut, wieviel sie dir bedeutet. Also sei klug, Priesterin, und füge dich!«
»Ich werde .«
»Es wird nicht schwierig sein, einen Selbstmord bei Thais vorzutäuschen«, unterbrach sie Philippos. »Laßt uns nur machen, Eure göttliche Majestät. Wir beide werden alles zu Eurer Zufriedenheit erledigen. Als Heiler wird jeder unserem Wort glauben, und was wirklich geschehen ist, bleibt ein Geheimnis.«
»Wir sind erfreut zu sehen, daß du ein Mann bist, dem unser aller Sicherheit wichtiger als irgendwelche verdrehten Moralvorstellungen ist. Männer wie du sind eine Bereicherung für unseren Hof, Grieche.«
Samu biß sich auf die Lippen. Sie hatte begriffen, daß jedes Wort, das sie noch gegen den tyrannischen Pharao richtete, sie ihr Leben kosten konnte. Und sie mußte leben, wenn sich die Dinge in Ägypten einmal ändern sollten. Sie hatte Einfluß auf Kleopatra, und die junge Prinzessin würde einst herrschen. Das Mädchen war auf einem guten Weg. Nach Generationen würde sie die erste Herrscherin auf dem Thron von Alexandria sein, die ihr Volk kannte. Die Ptolemaier hatten bislang nicht einmal die Sprache ihres Landes gelernt. Im Palast wurde nur griechisch gesprochen, und die Pharaonen maßten sich die Namen von Göttern an, deren Wesen sie nicht einmal begriffen hatten. Kleopatra jedoch war anders! Sie sprach fließend die Sprache Ägyptens und noch ein halbes Dutzend anderer dazu. Mit Samus Hilfe würde sie in die Mysterien der Isis eingeweiht werden. Schon jetzt, mit ihren vierzehn Jahren hatte Kleopatra tieferen Einblick in die Geheimnisse der Priester, als ihr Vater ihn jemals erlangen würde. Das einzige, was Samu Sorge bereitete, war die Tatsache, daß die Prinzessin auch einen Teil der Verschlagenheit ihres intriganten Vaters geerbt hatte. Sicher würde ihr das nutzen, wenn sie eines Tages Herrscherin war, doch mit all ihrem anderen Wissen mochte sie auch eine Königin werden, die grausamer war als alle Herren, die Ägypten bisher gesehen hatte. Es galt, sie auf den richtigen Weg zu bringen! Und das war ihre Aufgabe, dachte Samu. Diesem Ziel war alles andere unterzuordnen, auch wenn sie sich dafür vor dem Pharao demütigen mußte ... Sollte sie vom Hof verbannt werden, dann würden Männer wie Potheinos versuchen, Kleopatra nach ihrem Bild zu formen. Die Prinzessin war jung und der Eunuch klug .
Widerwillig half Samu Philippos dabei, die Hetaire zu entkleiden. Sie hatte Thais nie gemocht, und doch schmerzte es sie, ihren toten Körper in den Armen zu halten. Sie war fast noch ein Mädchen. Die Priesterin betrachtete die zarten, flachen Brüste der Hetaire. Wahrscheinlich hatte Thais nicht einmal siebzehn Sommer gesehen. Samu konnte sich nicht vorstellen, daß es die Idee des Mädchens gewesen war, in den Gewändern einer Artemispriesterin zum Pharao zu kommen.
Es mußte der Flötenspieler gewesen sein, der sie dazu verführt hatte! Doch warum hatte der Zorn der Göttin dann nicht auch ihn getroffen? Warum hatte Artemis das Mädchen mit ihren Pfeilen gerichtet?
Potheinos brachte eine flache Schale mit Wasser, und wortlos nahm Samu das zarte Kleid, das Thais getragen hatte, um es anzufeuchten und der Toten die blutigen Tränen und die Schminke aus dem Gesicht zu wischen. Sanft schloß sie dem Mädchen die Augen. Der Schmerz und die Angst des Todeskampfes spiegelten sich nicht mehr in ihren Zügen. Es sah fast so aus, als würde sie schlafen.
»Bringt sie auf ihr Zimmer! Wir wollen sie nicht mehr sehen. Nie mehr!«
Philippos nahm das tote Mädchen auf den Arm. Das Gesicht des Griechen erschien der Priesterin grau. Welche Sorgen ihn wohl in dieser Nacht wach gehalten hatten? Ob auch er sich vor dem Zorn der Göttin fürchtete? Würde es noch weitere Tote geben? Schweigend folgte sie dem Arzt.
Potheinos öffnete ihnen die Tür, die auf den Flur vor den Gemächern des Pharao führte. Die dort versammelten Höflinge verstummten sofort.