Wie aus einem Munde erhob sich ringsherum Jubelgeschrei, und hundertfach wurde der Name der Göttin gepriesen. Das hölzerne Podest, auf dem die heilige Statue der Artemis getragen wurde, war in Sicht gekommen. Es war mit Blumen und Früchten geschmückt; kleine Tonfiguren, die Tiere zeigten, standen zu Füßen der Göttin, und sogar ein Schiff mit silbernen Segeln war ihr als Weihgabe dargebracht worden. Das menschengroße Holzbild, das zahllose Generationen von Priesterinnen mit heiligen Ölen gesalbt hatten, war über die Jahrhunderte schwarz wie die Nacht geworden. Die Epheser behaupteten, das Götterbild aus Rebenholz sei vor Äonen aus dem Himmel gestürzt, und es sei älter als ihre Stadt. Schon zu Zeiten des Königs Kroisos hatte es keinen Menschen mehr gegeben, der zu sagen wußte, wie alt die Statue sei. Das Gesicht der Artemisstatue wirkte kalt und abweisend, doch hielt die Göttin ihre Arme wie zum Willkommensgruß geöffnet. Vor dem von zwölf Männern getragenen Podest schritten die Chosmophoroi und die Speirophoroi, Priesterinnen, die den Schmuck und die Gewänder der Göttin trugen. Nur einmal im Jahr, zu ihrem Geburtstag, zeigte der Tempel das nackte, hölzerne Bild der Göttin. Ansonsten war Artemis in kostbare Gewänder aus parthi-scher Seide oder in feinstes Leinen, gefärbt mit Tyrener Purpur, gehüllt.
Mehr als zwanzig Priesterinnen waren nötig, um den Schmuck der Göttin zu tragen. Es waren goldene Armreife und Diademe, Perlenketten, Ohrgehänge aus hauchdünnen Goldplättchen und mit bunten Edelsteinen verzierte Gürtel. Philippos gingen schier die Augen über. Mit dem, was dieser Schmuck wert sein mußte, könnte man eine ganze römische Legion ausrüsten und auf ein Jahr lang besolden. Was Artemis wohl davon hielt, daß diese Ionier sie mit Gold behängten, so als sei sie eine parthische Prinzessin? Die Griechen der Provinz Asia waren schon ein seltsames Volk. Sie hatten die Prunksucht der Perser übernommen, und wenn man die Standbilder, die sie der Artemis errichteten, mit denen verglich, welche die Tempel der zivilisierten Welt schmückten, dann mochte man kaum glauben, daß es sich um ein und dieselbe Göttin handelte.
Was hatten die Epheser nur aus der stolzen Jägerin in ihrem kurzen Chiton gemacht!
Unwillig blickte Philippos zu jener Priesterin hinab, die das seltsamste Kleidungsstück der Göttin trug. Es war ein breiter, bis unter die Brüste reichender Gürtel, auf den die gegerbten und mit Kräutern und Sägespänen aufgepolsterten Hodensäcke jener Stiere aufgenäht waren, die man der Artemis im Frühjahr geopfert hatte. Barbarisch! Wenn der Statue dieser Gürtel umgeschnallt war, dann sah es so aus, als habe sie zwei Dutzend Brüste. Doch was wollte man von korrumpierten Ioniern schon erwarten! Wer über Jahrhunderte mit den Persern paktiert hatte, konnte wohl von den seltsamen Gottesvorstellungen der Orientalen nicht unberührt bleiben.
Trotz seines Ärgers stimmte auch Philippos in das Jubelgeschrei zu Ehren der Göttin ein. Es war seine Artemis, die Herrin der Jagd und Geburt, deren Namen er laut hinausschrie.
Ihr und nicht jenem Zerrbild, das die Epheser aus der jungfräulichen Göttin gemacht hatten, galt seine Verehrung.
Im Grunde genommen hatten die Ionier Artemis gestohlen.
Jeder Gelehrte wußte, daß die Göttin auf Delos geboren worden war, doch die Epheser behaupteten frech, dies sei nicht wahr, und zeigten Besuchern einen Hain, in dem angeblich unter einem uralten Ölbaum Leto ihre Tochter Artemis entbunden hatte. So lange erzählten sie diese Lügengeschichte schon, daß unter den weniger Gebildeten längst ihre Variante als die Wahrheit galt, zumal sie der Göttin mit dem Artemision einen Tempel errichtet hatten, der - zumindest, was seine Größe anging - alle anderen Tempel der Welt übertraf.
Achtzig Schritt breit und mehr als hundertdreißig Schritt lang war der gewaltige Bau. Ein wahrer Wald von Säulen trug das Gebäude. Am Eingang des Tempels waren die Säulen mit mannshohen Reliefs geschmückt, die der berühmte Bildhauer Skopas geschaffen hatte. Noch prächtiger aber waren die vier riesigen Amazonen, die das Tympanon, den Giebel, des Tempels schmückten. Alles an diesem Tempel erschien Philippos auf ketzerische Weise überproportioniert. Auch wenn man das Artemision zu den Sieben Weltwundern zählte, empfand er den Tempel nicht als schön.
Genausowenig wie bei ihrem monumentalen Bau kannten die Ionier auch nur die geringste Bescheidenheit, wenn es darum ging, den Machtbereich der Göttin zu erweitern. So war sie längst nicht nur Geburtshelferin und Jägerin, sondern auch eine Fruchtbarkeitsgöttin, die über das Gedeihen von Viehherden gebot. Ja, die Epheser sagten ihr sogar nach, daß sie den Seefahrern Schutz gewährte. Deshalb war die hölzerne Statue während der Prozession auch zum Hafen getragen worden, und die Chrysophoi, die Träger des Götterbildes, waren mit der Sänfte so weit ins Meer gegangen, bis die Wellen die Füße der Göttin umspülten. Allerdings gab es auch den einen oder anderen Aspekt während der Feierlichkeiten, den Philippos durchaus als eine Bereicherung betrachtete. So hatte es am Vortag in der Arena der Stadt Wettkämpfe und Pferderennen gegeben, und überall herrschte eine so ausgelassene Stimmung, wie man sie sonst nur bei einem Fest zu Ehren des Dionysos antraf.
Das Götterbild war längst auf der Prozessionsstraße vorbeigetragen worden, und nach einer weiteren Gruppe von Flötenspielerinnen und Tänzerinnen folgten die mit Girlanden und bunten Bändern geschmückten Stiere, die der Artemis geopfert werden sollten. Man hatte die zwanzig schönsten Bullen von den Weiden des Tempels ausgewählt und dazu noch fast hundert Ziegen. Sie alle würden auf dem von Mauern umgebenen Altar vor dem Tempelportal der Göttin dargebracht werden.
Philippos lief das Wasser im Munde zusammen, wenn er an all das Fleisch dachte, das bis zum Ende des Tages noch aufgetischt werden würde. Für den Tempel, also für die Priesterinnen und ihre Gäste, würden die besten Stücke zurückbehalten werden, während das übrige Fleisch vom Kollegium der Kureten nach einem strengen Ritual an die Vertreter der verschiedenen Stadtviertel von Ephesos weitergegeben würde. Jeder Bürger sollte einen Anteil am Fleisch der Opfertiere erhalten.
Philippos dachte an seine Kindheit in Athen. Sein Vater war ein armer Töpfer gewesen, und es hatte nur sehr selten Fleisch in ihrem Haus gegeben. Doch jedes Jahr, wenn das Fest zu Ehren der Athene, der Schutzpatronin der Stadt, gefeiert wurde, hatten die Töpfer und Schmiede, so wie es von alters her ihr Recht war, das Hirn der Opferstiere erhalten. Als sei es erst gestern gewesen, konnte er sich daran erinnern, wie er und seine beiden Brüder vor der Tür ihres Hauses darauf gewartet hatten, daß der Vater mit einem blutigen Leinenbeutel die enge Gasse herunterkam, die zur Akropolis führte.
Anschließend hatten sie nicht von der Seite ihrer Mutter weichen wollen, während sie an der Herdstelle das Mahl bereitete. Obwohl er heute manchmal die Ehre hatte, zu Gast an der Tafel des Ptolemaios zu sein, so hatte Philippos nur selten etwas zu essen bekommen, das ihm so köstlich mundete wie das gekochte Hirn und die frischen Brotfladen, die es an den Festtagen seiner Kindheit gegeben hatte.
Gedankenverloren blickte der Arzt dem hölzernen Götterbild nach. Für ein Jahr lang würde Artemis nun in das Allerheiligste des gewaltigen Tempels zurückkehren. Merkwürdig genug, daß diese Art des Kultes den Menschen des barbarischen Landes gefiel. Zu Tausenden kamen sie jedes Jahr in die Stadt, um den riesigen Tempel zu bewundern, und sie brachten ihr Geld mit und gaben es für allen möglichen Unsinn aus.