Lang verdrängte Bilder von den Kämpfen in Hispania ulterior kamen Philippos wieder in den Sinn. Jene Nacht, in der die Rebellen des Sertorius seine Centurie in einem kleinen Bergdorf in eine Falle gelockt hatten. Der Arzt hörte über sich Rufe und Waffenklirren. Seine Hände tasteten nach dem Gladius des Hünen, der noch immer reglos neben ihm lag.
Es war genau wie damals in dem Dorf. Seine Kameraden waren tot. Er war auf sich allein gestellt. Das kurze Schwert in seiner Hand war der letzte Freund, der ihm noch geblieben war.
Vor Schmerzen stöhnend, kam Philippos auf die Beine. Er hatte sich ein Knie aufgeschlagen, und die Knöchel seiner rechten Hand waren von dem Faustschlag blutig, den er dem Krieger oben in der Kammer versetzt hatte. Jetzt wünschte er, den großen, schweren Holzschild bei sich zu haben, den er als Legionär so oft verflucht hatte.
Sein Kopf summte. Etwas Warmes lief ihm die Schläfe hinab. Er würde das Kleiderbündel wie einen Schild benutzen!
Zitternd vor Schwäche lief er auf eine Gasse zu, die dunkel zwischen den hohen Häusern der Hafenstraße klaffte. Hinter sich hörte er Schritte. Befehle wurden in die Nacht gerufen.
Etwas schlug dicht neben ihm klirrend gegen eine Hauswand.
Ein Speer! Sie wollten ihn umbringen!
Philippos beschleunigte sein Tempo. Die Barbaren würden keine Gnade walten lassen. Er kannte diese Iberer. Elendes Pack! Sie hatten alle seine Kameraden ermordet. Auf den Dächern der Häuser waren sie verborgen gewesen. Mit Karren hatten sie die engen Straßen des Dorfes versperrt, und dann begann das Massaker. Aber er würde ihnen entkommen. Es gab immer einen Weg!
Keuchend preßte sich Philippos in einen Hauseingang. Die Tür gab nach. Vielleicht fand er hier ein Versteck? Geduckt schlich er durch den Eingang, immer dicht an der Wand vorbei. Silbernes Mondlicht leuchtete das kleine, unscheinbare Atrium aus. Der Boden zeigte ein Mosaik mit einem schlichten, geometrischen Muster. Noch immer gegen die Wand gepreßt, umrundete Philippos den Innenhof. Er war ihnen entkommen! Hier würden sie ihn nicht mehr finden. Draußen auf der Straße konnte er lautes Rufen und die Geräusche genagelter Soldatenstiefel auf dem Pflaster hören. Warum trugen die Iberer Caligae? Hatten sie seinen toten Kameraden etwa schon die Stiefel gestohlen?
Philippos preßte sich die Hände gegen den Kopf. Ein stechender Schmerz pochte hinter seinen Schläfen. Ihm war übel. Das geometrische Muster auf dem Boden verschwamm zu tanzenden Linien. Nicht jetzt! Er biß sich auf die Lippen.
Irgend etwas stimmte hier nicht. Er durfte der Schwäche jetzt noch nicht nachgeben! In diesem Hof war er noch nicht sicher.
Der Arzt mußte sich jetzt mit einer Hand an der Wand abstützen. Daphne! Er würde sie nicht mehr wiedersehen. Er hätte nicht in die Legion gehen dürfen! Wer würde über sie wachen, wenn ihrem fetten, alten Ehemann etwas geschah?
Philippos betrat einen schmalen Gang, der tiefer in das Haus führte. Der Iberer mußte ein reicher Mann sein. Das Gebäude sah fast aus wie die Villa eines römischen Patriziers. Der Gang machte eine Biegung. Die Wände waren mit einer dunklen Farbe gestrichen, auf die man hier und dort falsche Säulen aufgemalt hatte. Irgendwo war Lärm. Das Rufen klang entfernt! Er hatte seine Verfolger abgeschüttelt!
Der Grieche stand vor einer Treppe. Es wäre eine gute Idee, das Erdgeschoß zu verlassen. Hinter einem Fenster verborgen könnte er dann beobachten, was auf der Straße vor sich ging.
Oder sollte er zurück zu seinen Kameraden? Vielleicht könnte er jemanden retten? Nein! Es war aussichtslos. Draußen lebte bestimmt keiner mehr. Jetzt war sich jeder selbst der Nächste. Wenn nur diese Kopfschmerzen nicht wären! Philippos preßte sich erneut die Hände auf die Schläfen und stolperte. Das Kurzschwert glitt ihm aus der Hand und fiel polternd ein paar der hölzernen Stufen hinab. Der Arzt kauerte sich in den Schatten des Geländers und fluchte leise. Das hätte nicht passieren dürfen! Er würde die Bewohner töten müssen, wenn sie ihn bemerkten. Er durfte die Sicherheit seines Verstecks nicht aufgeben.
Irgendwo über ihm öffnete sich knarrend eine Tür. »Ist dort jemand?«
Philippos lächelte. Der Kerl versuchte, ihn hereinzulegen. Er sprach griechisch und noch dazu mit einem starken ionischen Akzent. Aber von einem Iberer würde er sich nicht täuschen lassen. Philippos beugte sich vor und griff nach dem Gladius.
Der Stimme nach zu urteilen, war der Kerl dort oben nicht mehr der jüngste. Vielleicht würde er ihn doch nicht töten müssen. Der Arzt umklammerte den Griff der Waffe fester. Er sollte ihn sich packen, bevor er noch weiter herumkrakeelte.
Mit drei großen Sätzen war er die Treppe hinauf. Er hatte recht gehabt. Vor einem der Zimmer stand ein Mann, dessen Haar weiß im Mondlicht glänzte. »Sei still, dann wird dir nichts geschehen!« Die Sprache der Römer ging Philippos noch immer schwer über die Lippen. Ihr fehlte die Eleganz ... der schöne Klang. Es war die Sprache eines Bauern- und Soldatenvolkes.
Der Mann trat erschrocken einen Schritt zurück. Philippos setzte ihm nach und stieß ihn in das Zimmer, aus dem er gekommen war. Unten im Atrium erklang der Tritt von Soldatenstiefeln. Fackelschein fiel auf die Wände des Hofs.
Vorsichtig schloß der Arzt die Tür hinter sich. Vermutlich sahen die Iberer nur sicherheitshalber in die Höfe der Häuser, die an jene Straße angrenzten, in der seine Kameraden ermordet worden waren. Erschöpft lehnte sich Philippos mit dem Rücken gegen die Tür. Ein muffiger Geruch lag in der Luft. Es roch nach verschwitzten Decken und nach Urin.
Der Alte murmelte etwas. Er schien mit einer Frau zu sprechen. Der Arzt konnte in der Dunkelheit nicht erkennen, wer noch in dem Raum war. Auf jeden Fall sprachen die beiden griechisch. Der Alte versuchte, ihn noch immer zu täuschen.
Ob er wohl dachte, er würde ihn am Ende für einen griechischen Händler halten?
»Ruhig ihr beiden«, zischte Philippos ärgerlich. Eine neue Welle des Schmerzes flutete durch seinen Kopf. Helle Lichtpunkte tanzten durch den dunklen Raum, und es schien plötzlich kälter zu werden. »Eure Freunde haben meine Kameraden umgebracht. Aber wenn ihr still seid, werde ich euch am Leben lassen.«
»Wir haben mit den Morden an den römischen Bürgern nichts zu tun. Das alles ist doch schon so viele Jahre her«, entgegnete der alte Mann in holprigem Latein. »Es tut uns leid, wenn damals einige Eurer Freunde ums Leben gekommen sind. Aber wir sind unschuldig! Wir waren nicht einmal in der Stadt, als es geschah. Ich bin Kaufmann und war mit einem meiner Schiffe auf Reisen.«
Philippos lächelte zynisch. Er hatte es gewußt! Der Kerl versuchte, sich darauf herauszureden, ein griechischer Händler zu sein. Er würde ihn . Auf der Holztreppe waren leise Schritte zu hören. Der Arzt hielt den Atem an und lauschte. Hatten sie etwa seine Spur gefunden? Wie war das möglich? Vorsichtig trat er ein paar Schritt von der Tür zurück. Unstetes Licht war durch die Ritzen der Tür zu erkennen. Dort draußen mußten Fackelträger sein. Wie zum Henker hatten sie ihn aufgespürt? Philippos faßte sein Kurzschwert fester. Er würde sein Leben so teuer wie möglich verkaufen. Wenn ihm nur nicht so kalt wäre. Und diese Kopfschmerzen .
Krachend flog die Tür ins Zimmer. Das Fackellicht schien so hell wie die Mittagssonne zu sein. Bärtige Männer mit Bronzehelmen und hellen Leinenpanzern stürmten herein. Warum trugen die Iberer griechische Rüstungen? Sie glaubten wohl, sie könnten ihn täuschen! Und wie hatten sie ihn gefunden?
»Ergib dich, oder wir werden dich töten! Es gibt kein Entkommen mehr für dich. Das Haus ist von meinen Männern umstellt.«